082 - Die weisse Frau
wirklich.“
„Na, und? Gespenster sind bekanntlich nicht körperlich. Sie können uns nichts anhaben, höchstens ein bißchen erschrecken.“
„Gegen eine Gestalt aus Fleisch und Blut könnte ich mich wehren, aber gegen eine Spukgestalt …“
„Gegen die brauchst du dich doch gar nicht zu wehren, Liebes. Sie kann dir ja gar nichts tun, weil sie nicht körperlich ist.“
Petra erhob sich unschlüssig. „Wenn du meinst.“
„Wir müssen nur vorsichtig sein, damit uns keiner von den Paukern erwischt.“
Sie nahm Petra bei der Hand, huschte mit ihr zur Tür, öffnete diese und blickte auf den Flur hinaus. Niemand war zu sehen. Durch ein offenes Fenster waren die Rufe der Suchmannschaft zu hören, die immer noch im Fluß herumfischten. Offensichtlich hatten sie die Schülerin noch nicht gefunden.
Petra war sehr still. Das noch ungeklärte Schicksal Lydias ging ihr sehr nahe. Harriett dagegen war voller Abenteuerlust. Sie fühlte sich durch die Ereignisse herausgefordert und genoß die Spannung und die Ungewißheit. Als modern erzogenes Mädchen glaubte sie nicht daran, daß sie durch Vorgänge, die mit unserer Schulweisheit nicht zu erklären waren, gefährdet werden könnte.
Lautlos streiften die beiden Teenager durch das Schloß, zunächst ständig darauf gefaßt, daß etwas passierte. Doch die Zeit verstrich, ohne daß sich etwas ereignete, was ungewöhnlich gewesen wäre.
Gegen zweiundzwanzig Uhr bemerkte Petra durch ein Fenster den alten Keschmer, der auf Zehenspitzen durch den Park schlich und sich dann plötzlich mit einem mächtigen Satz in ein Gebüsch warf. Petra packte Harriett am Arm und hielt sie fest. Bleich blickten die Mädchen nach unten, beide überzeugt davon, nun endlich Zeuge eines geheimnisvollen Vorganges geworden zu sein. Minuten vergingen, bis der Alte endlich wieder erschien. Er hielt ein zappelndes Tier in seinen Händen.
„Er hat einen Dachs erwischt“, sagte Petra enttäuscht und fröstelte. „Es ist plötzlich so kalt hier. Merkst du es auch?“
„Irgendwo muß ein Fenster offen sein“, entgegnete Harriett. Sie wandte sich ab und eilte über den dunklen Flur. „Hier ist es wärmer. Komisch!“
Petra folgte ihr und rieb sich die nackten Arme.
„Da kannst du mal sehen, wie schwachsinnig Keschmer ist“, sagte Harriett und tippte sich an den Kopf. „Er kann noch nicht einmal eine Falle bauen.“
Die beiden Mädchen standen vor einer mit Eisen beschlagenen Tür.
„Huhuhu!“ sagte Harriett. „Hier geht’s zur Folterkammer, meine Dame. Möchten Sie die Schrecken des Mittelalters kennenlernen?“
Petra schüttelte den Kopf. „Komm, Harriett, wir gehen ins Bett. Es ist schon nach zehn Uhr.“
Harriett blickte auf ihre Armbanduhr. „Na, und? Dann haben wir noch zwei Stunden Zeit bis zur Geisterstunde. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Was suchen wir denn überhaupt?“ fragte Petra, die sich nichts mehr wünschte, als endlich wieder ins Bett gehen zu können.
Harriett drückte den Türdrücker herunter. Laut knarrend öffnete sich die Tür. Die beiden Mädchen lauschten ängstlich, aber nach einigen Minuten hatte sich noch immer nichts geregt, so daß sie sicher sein konnten, daß niemand etwas gehört hatte.
„Ich gehe in die Folterkammer“, erklärte Harriett mit fester Stimme. „Du willst mich doch wohl nicht im Stich lassen?“
„Ich finde es einfach blödsinnig, da hinunterzugehen.“
„Huhuhuuu! Schwesterchen, du hast Angst.“
„Du großer, weißer Vogel“, antwortete Petra wütend.
Harriett lachte.
„Du kannst ruhig dumme Gans zu mir sagen. Ich gehe trotzdem.“
Sie machte Licht und lief die steinerne Wendeltreppe hinunter. Da Petra Angst hatte, allein zu ihrem Zimmer zurückzukehren, und zudem wußte, daß sie doch nicht schlafen konnte, bevor Harriett ebenfalls wieder auf ihrem Zimmer war, folgte sie ihrer Freundin. Sie mußte sich beeilen, wenn sie ihr auf den Fersen bleiben wollte.
Die Wendeltreppe führte direkt in die mittelalterliche Folterkammer, die mit unvorstellbaren Folterinstrumenten gefüllt war.
Bevor sie die letzte Wende der Treppe erreichte, blickte Harriett sich lächelnd zu Petra um. „Na also, du Feigling!“
Sie betrat die Kammer. Vor ihr kippte eine Holzwand um, und sie sah auf ein blutiges Bündel Mensch, das sie angrinste. Holz knarrte, und Folterinstrumente rasselten.
Harriet schrie ihr ganzes Entsetzen heraus. Sie riß Petra um und raste über sie hinweg wie von tausend Furien gehetzt die Treppe hinauf.
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