082 - Die weisse Frau
Petra König sah nur Blut. Sie rappelte sich – ebenfalls schreiend – auf und rannte ihrer Freundin hinterher, die immer wieder stürzte. Zusammen erreichten sie die Tür, die noch offenstand. Sie warfen sie hinter sich zu, ohne daran zu denken, daß der Lärm alle im Schloß aufwecken mußte. Mit zitternden Händen drehte Harriett den Schlüssel herum. Dann ging sie in die Hocke und schlug die Hände vors Gesicht.
Petra legte ihr einen Arm um die Schultern. „Was war denn überhaupt los?“
Niemand im Schloß hatte auf den Lärm reagiert. Vielleicht lauschten die Mädchen auf ihren Zimmern ängstlich und wagten sich nicht heraus, weil sie fürchteten, dem Grauen zu begegnen.
„Da war Blut – ein Mann – er war blutig, überall“, stammelte Harriett.
Petras Finger gruben sich tief in Harrietts Schulter. „Horch!“
Deutlich hörten sie die schweren Schritte, die die Treppe heraufkamen. Sie waren unfähig, sich zu rühren. Wie gelähmt kauerten sie auf dem Steinfußboden und lauschten. Ein tonnenschweres Ungeheuer schien über die Stufen heraufzukommen.
Petra begann zu weinen. Sie zitterte am ganzen Körper.
Und dann stand das Ungeheuer hinter der Tür, nur Zentimeter von ihnen entfernt. Nägel kratzten über das Holz, erst hoch über den Köpfen der beiden Schülerinnen, dann immer tiefer.
„Still“, wisperte Harriett. „Sei still!“
Mit brutaler Gewalt zerrte und rüttelte der Unbekannte am Türgriff, und schließlich stieß er mit dem Fuß gegen die Tür. Die Schläge hallten durch das Untergeschoß des Schlosses.
Die beiden Mädchen schreckten hoch, sprangen auf, faßten sich bei den Händen, rasten auf die Treppe zu und in das erste Stockwerk hinauf und rissen die Tür zu Harrietts Zimmer auf. Harriett schlug sie hinter ihnen zu und verriegelte sie. Dann lehnte sie sich dagegen und horchte. Deutlich hallte das Schaben und Kratzen an der Tür zur Folterkammer zu ihnen herauf.
Dann hörten sie die Stimme von Dr. Schwab. Harriett legte den Finger an den Mund.
„Wir müssen ihnen doch sagen, was da unten ist“, flüsterte Petra.
„Bist du verrückt? Sie werden’s schon merken. Wir brauchen ihnen doch nicht zu verraten, daß wir im Schloß herumgesucht haben.“
„Ich bin vollkommen fertig“, gestand Petra erschöpft. „Was war das bloß?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Du kennst doch die Streckbank. Sie war hochgeklappt. Als ich runterkam, kippte sie auf mich zu, und ich konnte den Mann sehen, der drauf lag.“
„Ja – und? Wer war es?“
„Das weiß ich doch nicht. Es ging alles viel zu schnell. Ich habe nur Blut gesehen und ein fürchterliches Gebiß, das mich angrinste. Mir wurde ganz schlecht.“
. „Ich kann jetzt unmöglich allein schlafen.“
„Du kannst ja bei mir bleiben.“
Die beiden Mädchen entkleideten sich und stiegen ins Bett. Sie horchten noch eine Weile auf das, was draußen vorging. Man schien das Ungeheuer im Keller nicht entdeckt zu haben. Petra schlief bald ein. Harriett versuchte indessen immer wieder, eine vernünftige Erklärung für ihr Erlebnis zu finden. Doch das gelang ihr nicht, und allmählich begann sie sich über sich selbst zu ärgern. Sie fand, sie hätte nicht weglaufen dürfen.
„Sie schlafen immer noch nicht?“ fragte Dr. Schwab, als er den Speiseraum betrat und Anne Bloom an einem der Tische sitzen sah.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht schlafen.“
Er setzte sich zu ihr und blickte auf die Uhr. „Es ist fast drei.“
„Ich bin nicht müde. Hat man Lydia inzwischen gefunden?“
„Nein. Leider nicht.“
„Ich möchte zum Fluß gehen. Würden Sie mich begleiten?“
„Aber natürlich, Anne.“
Sie erhob sich und gähnte. Er bot ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer.
Draußen wurde es langsam hell, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Immer noch lag eine dichte Nebeldecke über dem Park. Sie gingen schweigend nebeneinander her. In der Ferne hörten sie die Rufe des Suchtrupps.
„Haben Sie schon gehört, was Lohmann entdeckt hat?“ fragte sie.
„Nein. Ich weiß nur, daß er in der Chronik des Schlosses herumgestöbert hat.“
Sie berichtete ihm, was sie erfahren hatte.
„Mir kommt es so vor, als hätte er mir noch nicht alles gesagt“, schloß sie.
„Ich werde mich mal darum kümmern“, versprach Schwab.
Sie hatten das Ufer des Flusses erreicht. Hier war der Nebel besonders dick; dennoch fanden sie Kommissar Wahlgahn und Daub recht schnell.
Die beiden
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