082 - Die weisse Frau
ins Wasser. Ihre Beine schlugen gegen etwas Hartes. Das Mädchen erwachte wie aus einem tiefen Traum, und der Kampf ums Leben begann erneut.
Mit aller Macht versuchte sie, wieder an die Wasseroberfläche zu kommen; und es gelang ihr auch.
Sie befand sich in einem stockdunklen Loch. Namenlose Angst befiel sie. Sie wußte nicht, wo sie war. Wenn sie im Ende eines Schachtes steckte, der über fünfzehn Meter hoch war, dann mußte sie hier ertrinken; niemand würde sie hören, wenn sie schrie.
Wild tastete sie die Wände des Schachtes ab. Ratten quiekten. Sie fürchtete sich nicht vor diesen Tieren, aber sie ekelte sich vor ihnen; dennoch waren die Laute Musik in ihren Ohren. Verrieten sie ihr doch, daß sie sich in einem größeren Raum befinden mußte. Ihre Hände krallten sich an einer Steinkante fest. Sie zog sich hoch, faßte nach der nächsten Kante und zog sich weiter hoch, bis sie mit beiden Armen über den Rand greifen konnte. Ihre Hände tasteten über flachen Boden.
Sie ließ den Kopf nach vorn fallen. Dann kroch sie erschöpft aus dem Wasserloch. Eine Ratte rannte über ihre Hände, aber das störte sie kaum. Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Langsam drehte sie sich auf den Rücken herum und richtete sich stöhnend auf. Ihre Hände tasteten über ihre Beine. Als sie das Knie des linken Beines berührte, zuckte sie zusammen. Aus dem Fleisch ragte ein spitzer Knochen heraus; das Bein war gebrochen.
Allmählich setzten die Schmerzen ein. Harriett biß die Zähne zusammen und schob sich mit den Händen langsam vorwärts, indem sie sich immer wieder hochstemmte und ihr Bein nachzog. Das rechte Bein schien in Ordnung zu sein; nur der Knöchel schmerzte etwas. Als sie eine Wand erreichte, eine Holzwand, blieb sie sitzen. Sie schöpfte neue Hoffnung und suchte ihre Umgebung ab, bis sie einen lockeren Stein gefunden hatte, mit dem sie einige Male gegen die Wand schlug. Es dröhnte dumpf. Sie vermutete, daß sie sich irgendwo unterhalb des Turmes befand. In der Nähe mußte auch die Folterkammer liegen.
Sie schrie und hämmerte zugleich mit dem Stein gegen die Wand, bis ihre Arme vor Erschöpfung nach unten sanken. Und allmählich verlor sie den Kontakt zu ihrer Umgebung. Regungslos saß sie da, bis sie bewußtlos wurde.
Ilona von Perlberg kam zum Wagen, als Dr. Schwab, Dr. Lohmann und Anne Bloom zum Schloß zurückkehrten.
„Sie möchten, bitte, zu Frau von Stöckingen kommen“, sagte sie zu Anne Bloom, als diese ausgestiegen war.
Die Lehrerin dankte der Schülerin und ging auf das Portal des Schlosses zu. Ilona folgte ihr.
„Fräulein Bloom?“
„Ja?“ Anne blieb auf der Treppe stehen.
„Wissen Sie, ob Harriett abgereist ist?“
„Davon ist mir nichts bekannt. Warum fragst du?“
„Wir suchen sie schon seit fast einer Stunde.“
„Ich werde mich sofort darum kümmern.“
Die Lehrerin eilte die Treppe hinauf. Wenig später stand sie der Schulleiterin gegenüber. Frau von Stöckingen blickte sie kalt und abweisend an. Anne glaubte sogar, Haß und Verachtung in ihrem Gesicht zu entdecken.
„Jetzt haben Sie den Bogen überspannt, Fräulein Bloom“, sagte Frau von Stöckingen. „Hier sind Ihre Entlassungspapiere.“
„Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.“
„Sie wissen sehr gut, was ich meine.“
Anne Bloom dachte gar nicht daran, sich wie ein dummes Kind abfertigen zu lassen. Sie setzte sich der Schulleiterin gegenüber, obwohl diese ihr keinen Platz angeboten hatte.
Mißbilligend runzelte Frau von Stöckingen die Stirn.
„Würden Sie mir, bitte, erklären, was vorgefallen ist?“
„Die von Ihnen bestellte Presse war hier.“
„Ich habe die Presse weder benachrichtigt noch hierher bestellt“, antwortete Anne Bloom ruhig. „Wenn wirklich ein Reporter hier war, dann habe ich nichts damit zu tun.“
„Davon bin ich noch nicht überzeugt.“
„Dann tut es mir leid, Frau von Stöckingen. Unter den gegebenen Umständen werde ich wohl ohnehin nicht erreichen können, daß Sie mir glauben.“
Die Schulleiterin war unsicher geworden, blieb aber nach wie vor unversöhnlich.
„Ich möchte Sie noch einmal fragen, ob Sie die Mädchen vorzeitig entlassen wollen?“ fragte Anne Bloom.
„Nein, auf keinen Fall.“
„Dann werde ich meine Klasse jetzt zusammenrufen und nach Hause schicken.“
„Das werden Sie nicht tun.“
„Ich wüßte nicht, warum ich das nicht tun sollte.“
„Ich werde die Entlassung rückgängig machen.“
„Warum? Es
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