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082 - Die weisse Frau

082 - Die weisse Frau

Titel: 082 - Die weisse Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Sky
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warf die Tür hinter sich zu.
    Keschmer brüllte wütend. Er zerrte an der Türklinke, doch das Mädchen hatte den innen steckenden Schlüssel bereits herumgedreht. Der Schwachsinnige tobte und trommelte mit den Füßen gegen die Tür.
    Harriett hoffte, daß irgendein Lehrer auf den Krach aufmerksam wurde. Auch Keschmer schien daran zu denken. Er wurde ruhiger. Harriett hörte, wie er sich gegen die Tür lehnte und wimmernd daran herunterrutschte. Sie starrte auf den schmalen Spalt unter der Tür. Keschmer schob seine krummen Finger hindurch. Suchend glitten sie hin und her. Sie erinnerten Harriett an Spinnenbeine. Wütend trat sie mit dem Fuß auf die Finger. Keschmer schrie gepeinigt auf und zog sie zurück. Sie hörte an seinem keuchenden Atem, daß er jedoch noch immer in der Nähe der Tür auf sie lauerte. Der Rückweg war ihr abgeschnitten. Sie mußte wohl oder übel darauf warten, daß der Schwachsinnige endlich verschwand, oder versuchen, einen anderen Ausweg zu finden.
    Sie entschloß sich, zu handeln. Mit ausgestreckten Armen schritt sie auf die gegenüberliegende Wand zu, stieß mit dem Knie gegen eine Truhe und blieb stehen. Vorsichtig tastete sie sich um das Hindernis herum. Sie schwitzte. Hier oben auf dem Boden war es drückend heiß.
    Endlich hatte sie die Tür gefunden. Es machte ihr keine große Mühe, sie zu öffnen. Im Raum dahinter war es heller. Durch die Ritzen zwischen den Dachpfannen fiel etwas Licht herein.
    Sie atmete auf. Scheu ging sie an dem Kleiderbündel vorbei, in dem vor noch gar nicht so langer Zeit die weiße Frau herumgewühlt hatte. Glücklicherweise war es jetzt Tag.
    Die nächsten Räume führten jedoch leider zu keiner Hintertreppe. Harriett blieb zwischen zwei hohen, verstaubten Schränken stehen und überlegte. Wenn sie sich nicht irrte, befand sich doch in der Nähe eine Wendeltreppe, die zum Turm hinaufführte.
    Sie sah sich suchend um. Fröstelnd rieb sie sich die nackten Arme. Wieso war es hier so kalt? Sie stand doch direkt unter den Dachpfannen, die von der Sonne beschienen wurden.
    Sie ging auf eine Wand zu; und je näher sie ihr kam, desto kälter wurde es. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Ihr war unwohl. Sie fragte sich, ob sie sich erkältet haben konnte. Aber dann erinnerte sie sich, daß es auch so kalt gewesen war, als sie die weiße Frau zum erstenmal sah. Im gleichen Moment wimmerte jemand hinter ihr.
    Sie fuhr herum. Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Vor ihr stand die weiße Frau. Sie schien von innen heraus zu leuchten und verbreitete ein phosphoreszierendes Licht. Wie anklagend streckte sie eine Hand aus.
    „Mein Kind“, flüsterte sie weinerlich. „Wo ist mein Kind? Gib mir mein Kind zurück!“
    Vor ihr auf dem Boden lagen wieder einige Kleider. Harriett fiel eine Stoffpuppe auf.
    „Ich weiß – nichts – von deinem Kind“, stammelte sie.
    Die weiße Frau schritt überraschend schnell auf sie zu. Eisige Luft hüllte das Mädchen ein. Eine dürre Hand ergriff den Arm Harrietts. Das Mädchen glaubte, in einer Eiswelt zu versinken. Sie schrie wütend auf, riß sich los und wich zurück.
    Krachend gaben die alten Bretter unter ihren Füßen nach. Sie rutschte durch einen Spalt. In panischer Angst griff sie um sich, bekam aber nur morsches Holz zu fassen.
    Die weiße Frau lachte schrill. Ein Lichtstrahl fiel auf ihren Schädel.
    Harriett stürzte in die Tiefe. Ihre Hände glitten über rauhe Wände. Sie schrie ihre ganze Angst hinaus, denn sie wußte, daß nichts mehr sie retten konnte. Immer schneller fiel sie in die Tiefe. Ihre Beine und ihre Hände fanden keinen Halt in dem Schacht, der kaum einen Meter Durchmesser hatte. Das Gelächter der weißen Frau verklang hoch über ihr.
    Im Bewußtsein des nahen Todes gab das Mädchen den Kampf auf. Sie fiel in eine Art Dämmerzustand. Die gnädige Natur erleichtert dem Menschen die letzten Sekunden seines Lebens. Der Tod wird akzeptiert; er wird nicht mehr als Feind angesehen, gegen den der Mensch alle Körperkräfte mobilisiert. Der Tod wird schön.
    Harriett fühlte sich schwerelos. Sie glaubte, angenehme Töne zu hören, die nichts mit der Musik gemein hatten, die sie bisher gekannt hatte. Doch ihr Leben lief nicht wie ein Film vor ihr ab. Sie hatte vollkommen vergessen, was bisher gewesen war. Sie dachte überhaupt nicht mehr an ihr junges Leben, sondern fühlte sich in einer Weise frei, wie nie ein Lebender sich frei gefühlt hatte.
    Ihr Sturz durch den Schacht endete mit einem Schock. Sie fiel

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