082 - Die weisse Frau
erfuhr, was er auch schon herausgefunden hatte.
„Die vollkommene Rache?“ fragte Anne. „Wie meinen Sie das?“
„Nun, wie Sie wissen, liebte Ulrike einen Bürgerlichen namens Leopold. Er war der Sohn des Baders.“
„Das wissen wir“, bestätigte Anne.
Anton Grünwald blickte sie an. „Dem Grafen Hugo paßte diese Partie aber nicht nur deshalb nicht, weil in Leopolds Adern kein blaues Blut floß, sondern weil er wußte, daß eben dieser Leopold – der Henker von Schloß Hohenbrück war.“
„Mein Gott!“ sagte die Lehrerin entsetzt.
Sie konnte sich recht gut vorstellen, was der Graf empfunden haben mußte, als er entdeckte, daß seine Tochter ausgerechnet diesen Mann liebte.
„Ich habe es geahnt!“ rief Dr. Lohmann triumphierend. „Ich habe es geahnt, daß es so ist.“
„Ich glaube, die Gestalt eines Henkers in der Folterkammer gesehen zu haben“, erklärte Anne Bloom zögernd und blickte Dr. Schwab dabei an; sie fürchtete, daß er ihr nicht glauben würde, aber er nickte ihr zu.
„Sehr gut möglich“, antwortete Anton Grünwald. „Denn der Henker geistert ebenfalls auf Schloß Hohenbrück herum. Aber er erscheint nur in sehr großen Abständen und keinesfalls regelmäßig. Einmal sind über hundert Jahre vergangen, bis er erneut auftrat und seine entsetzlichen Taten beging.“
„Was hat er getan?“ fragte Anne.
„Er hat gefoltert. Er hat junge Mädchen in die Folterkammer gelockt und sie auf kaum vorstellbare grausame Weise getötet.“
„Aber warum?“
„Wir wissen es nicht. Wir können es nur vermuten.“
„Lassen Sie es mich sagen“, unterbrach Dr. Lohmann.
Er glühte förmlich vor Eifer.
„Bitte!“
Lohmann blickte Anne mit glänzenden Augen an. „Überlegen Sie doch einmal, liebe Kollegin! Glauben Sie wirklich, Graf Hugo hat seine Tochter selbst eingemauert?“
„Ich verstehe nicht.“
„Doch, doch, Sie wissen recht gut, was ich meine. Der Graf hat natürlich keinen einzigen Stein selbst in die Hand genommen. Er hat nur zugesehen. Der Henker hat die Arbeit verrichtet. Und der Henker war der Geliebte Ulrikes!“
Triumphierend blickte er sich um, aber weder Dr. Schwab noch Anton Grünwald überschütteten ihn mit Lob.
„Welch herzige Abschiedsszene“, fügte er hinzu. „Was sagen Sie dazu, verehrte Kollegin?“
„Nichts“, antwortete Anne wortkarg.
Sie erhob sich und ging zum Rand der Terrasse. Das Schloß lag im hellen Sonnenlicht. Auf den Feldern arbeiteten die Bauern. Die Bundesstraße war belebt. Viele Touristen kamen jetzt hier vorbei. Wohl keiner ahnte, welche Tragödie sich vor Jahrhunderten auf diesem Schloß abgespielt hatte.
Die Lehrerin kehrte zu den Männern zurück und setzte sich.
„Was wollen Sie unternehmen?“ fragte sie Dr. Schwab.
„Das sagten wir doch schon. Herr Grünwald wird den Geist Ulrikes rufen.“
„Das genügt nicht. Die Mädchen müssen weg.“
Dr. Schwab schüttelte den Kopf. „Das werden Sie nicht schaffen.“
„Sie haben doch gehört, daß auch der Henker heute nacht erscheinen wird. Er wird versuchen, sich eines der Mädchen zu holen, und es foltern. Wollen Sie das verantworten?“
„Das kann ich nicht verantworten, Anne, aber ich bin machtlos. Das wissen Sie so gut wie ich. Übersehen Sie, bitte, nicht, daß wir ohne eindeutigen Beweis für die Existenz dieser beiden Erscheinungen nichts gegen Frau von Stöckingen ausrichten können. Selbst die Polizei würde das Schloß nicht räumen. Ich glaube Ihnen, daß Sie die weiße Frau gesehen haben, aber das hilft uns nicht viel.“
„Ich gebe nicht auf. Ich werde dafür sorgen, daß alle Mädchen das Schloß verlassen.“
„Das Kind hat Haare auf den Zähnen“, sagte Dr. Lohmann und pfiff laut durch die Zähne. „Das muß man ihr lassen. Sie sollten es sich überlegen, ob Sie sie heiraten, verehrter Kollege. An ihr könnten Sie sich die Zähne ausbeißen.“
Das Blut stieg Anne Bloom in die Wangen. Sie blickte Dr. Schwab nicht an.
„Sie sind ein Widerling, Dr. Lohmann.“
Er legte den Kopf zurück und blinzelte sie durch die dicken Gläser seiner Brille an.
Sie erhob sich.
„Ich möchte gehen“, sagte sie.
„Jetzt bestimmt sie auch noch, wann wir aufbrechen“, stöhnte Dr. Lohmann, aber auch er stand auf und streckte Anton Grünwald die Hand hin, um sich von ihm zu verabschieden. „Bis heute abend!“
Harriett Mahler drückte die Türklinke herunter und atmete auf. Die Tür war offen. Sie sprang blitzschnell in die dunkle Kammer und
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