0825 - Böse kleine Elena
Gesicht der Elena verzerrte sich in einer unbeschreiblichen Pein. Sie hielt es an ihrem Platz nicht mehr aus und warf sich mit einem kraftvollen Sprung auf den Kopf ihrer Mutter zu…
***
Ich wollte nicht, dass sie auf ihn prallte und dabei das brüchige Gebilde zerstörte.
Deshalb warf ich mich entgegen. Ich fing sie auf, und sie fiel in meine Arme. Einen winzigen Augenblick nur bewegte sie sich, sodass ich den Eindruck hatte, keinen lebendigen Menschen festzuhalten, eher eine starre Person, eine Leiche, die ich aus dem Sarg geholt hatte.
Sie schrie nicht. Ihr Gesicht hatte sich in stummer Panik verzerrt. Die Augen waren verdreht. Aus dem offenen Mund strömte ein säuerlicher Geruch, und ich stellte sie wieder hin, so wie man einen Besen wegstellt, nur hielt ich die junge Frau fest.
Sie stierte nach vorn.
Aus dem Mund rann heller Speichel und hinterließ dünne Streifen zwischen Unterlippe und Kinn.
Denn die Worte. Abgehackt, keuchend. Immer die gleichen. »Mutter – Mutter…«
Sie hatte ihre Mutter erkannt oder vielleicht auch nur gespürt, dass es ihr Schädel war. Elena war nicht normal, denn in den dunklen Augen leuchtete der Wahnsinn. Zu lange hatte sie hier allein gehaust, zu lange war sie mit dem eigenen Schicksal und ihren Gedanken beschäftigt gewesen, um noch klar und logisch handeln zu können. Die Betreuung durch den Pfarrer war zu flüchtig gewesen. Vielleicht hatten wir den Anstoß dazu gegeben, dass sie endgültig den Verstand verloren hatte.
»John, das ist ja schlimm…«
Jetzt wusste ich, dass Harry Stahl ebenso fühlte wie ich. Aber der Anfang war gemacht, wir konnten uns keinen Rückzieher mehr erlauben, es musste weitergehen.
Harry hatte den Auftrag angenommen, den Körper zu finden, der zum Schädel gehörte, und ich war davon überzeugt, dass uns Elena den Weg zeigen konnte.
An ihrer Bewegung merkte ich, was sie vorhatte. Sie wollte zum Kopf ihrer Mutter, und ich sah keinen Grund, es ihr nicht zu erlauben.
Nur blieb ich an ihrer Seite. Sie ging mit kleinen, zaghaften Schritten, obwohl es sie sicherlich drängte, an das Ziel zu gelangen.
Dann weinte sie.
Ein Damm war gebrochen, die seelische Barriere hatte den Widerstand aufgegeben, und die Tränen rannen aus ihren Augen. Sie strömten über die kalte, schmutzige Haut der Wangen, und der gesamte Körper bebte in meinem Griff. Wir waren so nahe an den Kopf herangegangen, wie Elena es wollte.
Harry hatte sich zur Seite bewegt, um einen besseren Leuchtwinkel zu haben. Sein Ziel war das bleiche Gebein des Schädels, und das weiße Licht hinterließ auf dem gelblichen Gebein einen hellen Schimmer. Elena sank in die Knie.
Ich hielt sie dabei nicht zurück, ich führte sie nur und verhinderte, dass sie auf ihre Kniescheiben fiel. Wie eine andächtige Gläubige in der Kirche sich niederkniet, so sah es auch bei ihr aus, und die Arme, die sie erhoben und dabei angewinkelt hatte, sanken langsam nach vorn. Dabei streckte sie die Hände aus und legte die Innenflächen um den Totenschädel.
Sie umfasste und liebkoste ihn zugleich. Es musste für sie der Moment der Wahrheit sein, doch welche Gefühle genau sie durchtobten, das wussten wir nicht. So etwas war für Fremde überhaupt nicht zu ermessen, die nicht das durchgemacht hatten, was hinter ihr lag.
Es war ein Wiedersehen, wie wir es nicht für möglich gehalten hatten, und Harry fragte mich mit leiser Stimme, denn er wollte auf keinen Fall stören: »Was tun wir jetzt?«
»Noch warten.«
»Du bist gut.«
Ich deutete mit dem Zeigefinger auf Elenas Rücken. »Sie wird wissen, wie es weitergeht.«
»Okay.«
Auch mir war klar, dass sie hier nicht die ganze Nacht über knien konnte.
Der Schock der ersten Minuten war überwunden, das Unheimliche war zurückgewichen, aber noch immer war die Szene hier makaber genug.
Elenas Schluchzen und Flüstern erreichte die alten Mauern und wurden davon zurückgeworfen. Ihre Schulterblätter zuckten, aber wir sahen auch den Ruck, der durch ihren Körper ging, als hätte sie sich zu einer Aktion entschlossen.
So war es auch, denn plötzlich verwandelte sich ein erneuter Ruck in eine Bewegung, und Elena stand auf.
Mit dem Schädel zwischen den Händen!
Ich ging einen Schritt zurück, denn ich wollte ihr nicht im Weg stehen.
Sie drehte sich um. Den Schädel der Mutter hielt sie in ihren Händen, und sie schaute gegen die Augen. Uns nahm sie gar nicht wahr. Wir waren für sie nicht existent. Jetzt zählte nur die nahe Verwandtschaft mit der
Weitere Kostenlose Bücher