0825 - Böse kleine Elena
zerstückelten Toten.
Mein Mitleid mit Elena steigerte sich. Ich konnte nur ahnen, was dieses schmächtige Mädchen durchgemacht hatte und auch noch durchmachen würde – jetzt, da sie endlich den Schädel gefunden hatte. Sie trug ihn vorsichtig, als bestünde er aus wertvollem Porzellan, und ich war sicher, dass sie sich auch in der absoluten Finsternis so bewegt hätte wie jetzt. Ihre Tritte waren zielsicher, wenn auch langsam. Sie wusste sehr genau, wo sie hingehen wollte, und wir taten nichts, um sie aufzuhalten.
Natürlich dachte ich einen Schritt weiter. Harry Stahl hatte den Auftrag erhalten, den Körper der zum Schädel gehörte, zu finden. Und Wilbur Scott hatte wahrscheinlich von Anfang an gewusst, das es der Schädel von Tabita Scott war. Ich kannte den Platz nicht, wo wir nach dem Körper suchen mussten, aber für mich gab es keinen Zweifel, dass Elena Bescheid wusste.
Sie ging davon.
Sie war wie ein Geist. Sie kümmerte sich um nichts. Als gespensterhafte Erscheinung durchschritt sie die Dunkelheit, begleitet von einem leisen Summen, das trotz ihrer geschlossenen Lippen zu hören war. Keine traurige Melodie, es war eher der Gesang eines Kindes, der einzig und allein der Mutter galt.
Und so ging sie weiter.
Sehr kleine Schritte machte sie, verfolgt vom Kegel der Lampe. Harry ließ ihn um die Beine der jungen Frau kreisen, als wollte er ihr leuchten, was nicht nötig gewesen wäre, denn ihren Weg fand sie von ganz allein.
Elena kannte hier jeden Fleck, jedes Hindernis, und sie überstieg sie mit etwas abgehackten Schritten und Bewegungen. Sie fand sich dabei wunderbar zurecht, und man sah ihr an, dass sie den Weg schon oft gegangen war.
Wo führte er hin?
Rechts und links begleiteten wir sie, und sie brachte uns in die unbekannten Teile der alten Ruine, wo die Reste noch nicht so zerstört waren und wir erkennen konnten, dass hier einmal große Räume den Menschen Platz geboten hatten.
Einige Mauern waren eingefallen und bildeten regelrechte Schuttwälle.
Andere standen noch, strömten einen kalten Geruch aus. Es gab auch Gänge hier.
In einen von ihnen führte uns die junge Frau.
Sie schritt dahin wie eine Schlafwandlerin, und als wir einbogen, da glaubte ich, in der Ferne – oder kam es mir nur so weit vor? – ein Licht zu sehen.
Das hatte auch Harry erkannt. Er löschte seine Stablampe. Wir hatten uns nicht geirrt.
Vor uns leuchtete ein Licht.
Eine Laterne, denn es bewegte sich, was daher rührte, dass der Wind in die Flamme fuhr und mit ihr spielte. Genau diese Flamme war das Ziel der jungen Frau mit dem Totenschädel.
Wir blieben hinter ihr und gingen nun auch sehr langsam, denn auf dem Boden lagen unzählige Steine, die Stolperfallen bildeten. Es war nicht so weit, wie ich gedacht hatte. Sehr schnell erkannten wir das Licht besser und sahen auch den hellen Kranz, der sich um das Zentrum gelegt hatte.
Er bildete die Insel, und er leuchtete das aus, was dicht unter der Kerze lag, denn sie selbst stand auf einem Stein, vergleichbar mit einem Altar.
»Ich glaube, John, wir sind gleich am Ziel«, hauchte Harry. »Das ist furchtbar, aber…«
»Pssst…«
Ich wollte nicht, dass Elena Scott bei ihrem Ritual gestört wurde, weil ich mir vorstellen konnte, dass sie gerade darauf so lange gewartet hatte.
Der Gang war relativ eng. Wir hätten Elena jedenfalls nicht einrahmen können, und so mussten wir an ihr vorbeischauen, um zu sehen, was sich im Schein der Kerzen befand.
Noch war es verschwommen, aber als Elena stehen blieb und sich hinkniete, da konnten wir endlich erkennen wohin sie gegangen war.
Vor ihr lag das Grab der Mutter!
***
So abgebrüht war ich nicht, als dass mir hier kein Schauer über den Rücken gelaufen wäre. Für einen Moment stockte mir der Atem, auch Harry ging die Szene nahe, denn ich hörte ihn leise stöhnen. Ich schob mich noch weiter vor, um einen besseren Blickwinkel zu haben, und was ich sah, war nicht nur makaber, es erinnerte mich auch unwillkürlich an die Schlüsselszene in dem Film »Psycho«, denn dort war es ähnlich gewesen.
Da hatte Norman Bates, der Sohn, seine Mutter im Keller aufbewahrt.
Hier war es die Tochter, und sie hatte für ihre kopflose Mutter ein regelrechtes Bett geschaffen.
Der schrecklich aussehende Leichnam lag auf fauligem Stroh, war aber eingerahmt von Blumen, von denen mehr als die Hälfte längst verblüht waren. Sie ließen die Köpfe hängen, sie passten sich der Herbst- und Totenstimmung an, und auch der
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