0829 - Die Hölle der Unsterblichen
dem Menschen abwehrend entgegen. »Lass die Haarspaltereien«, wiederholte sie die Worte, die Baudelaire ihr vor wenigen Augenblicke entgegengeschmettert hatte.
»Wir sehen, dass unsere Feinde genau den Weg gehen, den Lucifuge Rofocale vorausgesehen hat«, lenkte Baudelaire ab. »Der Ministerpräsident sagte uns, dass sie nach Paris kommen und dort Jean-Marie Lamy aufsuchen würden. Genauso ist es geschehen.«
»Selbstverständlich«, behauptete Angélique. »Lucifuge Rofocale hat immer Recht!«
Niemand hat immer Recht, dachte Baudelaire, sprach es aber nicht aus. »Und genau deswegen habe ich unsere Feinde nicht angegriffen, sondern den taktischen Rückzug vorgezogen. Der Ministerpräsident warnte mich ausdrücklich, dass…«
»Das hatten wir schon«, unterbrach die Vampirin. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge - unser Plan ist in allen Einzelheiten gescheitert. Lamy lebt, unsere Feinde haben Kontakt mit ihm aufgenommen, und die Ablenkung, die AO wir für sie vorbereitet haben, wird ihren Zweck nicht erfüllen.« Sie lachte bitter. »Wahrscheinlich wissen sie noch nicht einmal etwas von den Leichen, die wir unübersehbar platziert haben.«
***
Nicht weit entfernt glaubte Zamorra, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.
Über die magische Verbindung, die Sid Amos aufgebaut hatte, hörten er, Sid und Nicole jedes Wort, das Baudelaire und die Vampirin sprachen.
Als er den schwebenden Kopf entdeckt hatte, war Zamorra verblüfft gewesen; die direkt anschließende Materialisation des zugehörigen Körpers und das folgende Gespräch hatten die drei Beobachter so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie selbst noch kein Wort gewechselt hatten.
Jetzt brach der Meister des Übersinnlichen das Schweigen. »Ablenkung?«, fragte er leise. »Leichen?«
»Oh«, machte Amos. »Ich war ja etwas früher als ihr in Paris… Ich kam noch nicht dazu, euch zu sagen, dass an etlichen Stellen Verbrechen geschehen sind, die die örtliche Polizei vor unlösbare Rätsel stellen. Um es auf den Punkt zu bringen: gepfählte Vampiropfer und Leichen, die medizinisch unerklärbare Innere Verletzungen aufweisen. Folgen davon, dass niedere Höllengeister in den Körpern wüteten. Ich maß dem keine größere Bedeutung zu.«
Nicole sog angesichts dieser zynischen Gelassenheit zischend die Luft ein. »Zahlreiche Leichen sind sehr wohl von Bedeutung!«
»Doch nun ist mir klar, warum es gerade jetzt geschah«, fuhr der ehemalige Höllenfürst ungerührt fort. »Ein Ablenkungsmanöver, das Lucifuge Rofocale gestartet hat. Sehr gerissen von dem alten Fuchs. Nach seinem Plan hätte es sich folgendermaßen gestaltet: Ihr kommt hier an, findet Lamy tot, erfahrt von den Todesopfern, die zweifellos auf dämonische Aktivitäten zurückgehen -und ihr seid gebunden.«
»Woher wusste Lucifuge von Lamy und davon, dass wir ihn aufsuchen würden?«
Amos lachte. »Ich wusste von ihm. Wieso sollte er nicht über dasselbe Wissen verfügen? Und darüber hinaus ist in der Hölle bekannt, dass ihr immer auf die eine oder andere Weise an jede nur irgendwie denkbare Information herankommt. Also war klar, dass ihr früher oder später über Lamy stolpern würdet.« Er lächelte diabolisch und erinnerte mehr denn je an den Dämon, der er einst gewesen war. »Über Lamy stolpern. .. Wie außerordentlich passend. Genau das sollte euch wohl in wörtlichem Sinn passieren.«
»Still!«, zischte Zamorra. Die Diskussion zwischen Baudelaire und dem Vampirgeschöpf war inzwischen weitergegangen. Jetzt machten sie sich daran, den Friedhof zu verlassen. »Wir sollten die beiden nicht entkommen lassen.«
»Lasst mich das erledigen«, forderte Sid Amos. »Ich kenne diese Vampirin. Wer einmal mit ihr zu tun hatte, der vergisst sie nicht so schnell.«
»Du kennst sie?«
»Sie ist einmalig.« Fast schien es Zamorra, als gerate Amos ins Schwärmen. »Dass sie uns ihren Körper präsentiert, ist eine Ausnahme.«
Zamorra erinnerte sich nur zu gut daran, dass sie zunächst nur als Kopf erschienen war. Trotz aller Monster und allen Schrecklichkeiten, die er im Laufe der Jahre gesehen hatte, war ihm dieser Anblick an die Nieren gegangen.
»Ich kümmere mich um sie«, sagte Sid Amos und trat aus dem Schatten ihres Verstecks.
***
Im Keller des Hauses, das Jean-Marie Lamy bewohnte fragte sich Andrew Millings, ob er sich tatsächlich noch dort befand, oder ob er längst sonst irgendwo angekommen war.
Als er sah, wie Lamy durch die Wand ging, hatte er versucht, sein bewusstes Denken
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