083 - Das Ende der Unschuld
Seeswane jagen und uns wieder in dampfenden Ozeanen paaren?) Die naiven Fragen erheiterten den Sol. Sie kamen fast ausschließlich aus den Auren niedrigerer Ränge: aus denen der Lin und der Lan. Leq hatte Ora’sol’guudo nicht berufen - sie ließen sich zu schnell von ihren Sehnsüchten überwältigen.
Der Sol tadelte sie nicht. Er ließ sie eine Zeitlang gewähren, ließ die naiven Bilderwogen zu. Bilder des Heimwehs, Bilder von Daa’mur…
***
Die Trommeln und Hörner setzten wieder ein, während sie dem Lager entgegen zogen. Und das Volk zwischen Feuern und Zelten begann aufs Neue zu tanzen.
Taqua’floydan eilte voran, der verwachsene Narod’kratow tänzelte um Bulba’han herum. Immer wenn des Schwertkriegers Blick ihn streifte, verbeugte er sich und setzte eine kriecherische Miene auf. Seine Gegenwart ekelte den jungen Schwertkrieger.
Sie erreichten die ersten Zelte. Dreißig oder vierzig mochten es insgesamt sein. Ungefähr zehn Feuer loderten dazwischen.
Die Hauptmenge des Volkes hatte sich vor den Klippen versammelt, noch über sechzig Schritte entfernt. Aufgeregt tanzten sie, unterbrachen ihren Tanz nicht einmal, wenn sie die Fäuste schüttelten und Flüche und Verwünschungen ausstießen. Viele schrien oder jammerten. Bulba’han begriff nicht sofort.
Taqua’floydan drehte sich zu ihm um. »Ihr müsst vorsichtig sein, Schwertkrieger«, sagte er. »Mur’gash ist ein Freund der Macht im See.«
Bulba’han und die Seher links und rechts von ihm blieben stehen, als würde ein unsichtbares Hindernis sie aufhalten. Ein Freund der Macht im See genoss bei den Mastr’ducha - bei den Geistmeistern also - das gleiche Ansehen wie die Seher bei den Woiin’metcha; und sie hatten die gleiche Aufgabe: Den Willen der Macht im See erforschen, die Gebete und Rituale durchführen, die großen Feste ausrichten.
Sie gingen weiter. »Sieh nur, Bulba’han!« Der Älteste der Seher umklammerte plötzlich den Arm des jungen Schwertkriegers. Seine Stimme klang heiser und erschrocken.
»Beim Höchsten des Sees!« Er deutete auf die Tanzenden.
»Sieh hin!«
Bulba’han sah hin, und jetzt begriff er: Sie tanzten nicht aus freien Stücken! Flammen umzingelten jeden einzelnen.
Feuerzungen leckten nach ihren Füßen, nach ihren Beinkleidern und den Säumen ihrer Röcke! Sie hüpften, drehten sich, sprangen hin und her, um den kleinen Flammen auszuweichen. Manche versuchten sie auszutreten, andere bückten sich und schlugen nach Brandstellen an ihren Kleidern.
Etwa vierzig oder fünfzig Tänzer waren es, Leute des Maulwurfsvolks und Männer und Frauen der Fischfänger, der Rriba’low. Etwa genau so viele standen abseits zwischen Lager und Brandung in sicherer Entfernung. Sie starrten zu dem Felsvorsprung in der Klippenwand hinauf.
Dort, vielleicht dreizehn oder vierzehn Schwertlängen über den unfreiwilligen Tänzern, schwang der reptilienartige Geistmeister Mur’gash einen verrosteten Eisenstab, stampfte im Rhythmus der Trommeln mit dem Fuß auf den Fels und stieß gackernde Schreie aus. Es klang, als würde er lachen.
»Es stimmt«, flüsterte der Älteste der Seher. »Er ist wahnsinnig, eine wahnsinnig gewordene Echse!«
»Ihr müsst ihn töten, junger Schwertkrieger!«, flehte der knotige Zwerg neben Bulba’han. »Er ist berauscht. Er und seine Kumpanen haben meine Branntwasser-Vorräte geplündert.« Der verwachsene Maulwurfsmensch faltete bittend die Hände. »Ihr müsst ihn unbedingt töten!« Bulba’han sah hinauf zu dem kreischenden Reptil. Mur’gash stampfte, wiegte die Hüften und schwang den Rostprügel über seinem Schädel. Bulba’han kämpfte um seine Selbstbeherrschung. Nur nicht die Stirn runzeln, nur nicht mit Brauen oder Lippen zucken. Es gelang ihm: Scheinbar gleichgültig beobachtete er den berauschten Geistmeister auf dem Felsvorsprung.
Taqua’floydan entblößte seine rostigen Schneidezähne.
»Wenn man nicht selbst tanzen muss, ist das richtig spaßig, oder, Schwertkrieger? Mur’gash hat übrigens auch gewettet. Er ist überzeugt davon, dass die Welt untergeht, und zwar ziemlich bald…« Sein Wortschwall riss noch lange nicht ab, aber Bulba’han versuchte den Schwätzer zu ignorieren.
Unter Mur’gash, auf den Sandverwehungen vor den Klippen schüttelten sich seine Artgenossen zu ihrer Musik. Die Posaunisten hatten die Echsenschädel in die Nacken gelegt, und die Trommler droschen auf ihren Trommeln herum, als wären sie in Trance. Es roch nach angesengtem Leder.
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