083 - Das Gasthaus an der Themse
nach ein paar Minuten wieder zurück. »Er heißt Brown und ist angeblich sehr reich«, sagte er. »Das weiß ich von demselben Ober. Ist mit den beiden etwas nicht in Ordnung?« fügte er besorgt hinzu. Es war schon häufiger vorgekommen, daß mit einem Gast, der in »Lydbrake« üppig speiste, etwas nicht in Ordnung war. »Das kann ich noch nicht sagen«, entgegnete Wade kurz. »Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, sich die beiden unbemerkt ein bißchen genauer anzusehen? Ich möchte nicht, daß Sie den Oberkellner einweihen, es darf nicht das geringste Aufsehen geben. Ich will nicht, daß die Leute anfangen zu schwatzen.« Der Portier dachte nach. »Nummer neunzehn ist frei. Gehen Sie ruhig hinauf, Inspektor. Wenn nötig, kann ich dem Oberkellner sagen, Sie wollten nur einen Brief schreiben. Aber Sie verstehen, daß ich nicht wissen darf, wer Sie sind, Sir. Es könnte mich meine Stellung kosten.«
Der Inspektor bemühte sich, die Sorgen des Mannes mit ein paar freundlichen Worten zu zerstreuen, als plötzlich jemand auftauchte, den er unter wesentlich angenehmeren Umständen Wiedersehen sollte. Es war eine rein zufällige Begegnung, keiner der beiden führte sie herbei.
Als Wade auf den Hauseingang zusteuerte, sah er sich plötzlich einer schwankenden Gestalt im Abendanzug gegenüber. »Wasch für'n hübschesch Mädchen! Wasch für eine Schönheit!« Der dickliche junge Mann mit dem roten Gesicht und einem kleinen roten Schnurrbart taumelte auf den Portier zu. »Wer isch'n das? Bennett?« »Ich weiß leider nicht, wie die Herrschaften heißen, Mylord.« Der junge Mann mit den derben Händen und dem grobschlächtigen Gesicht war schwer betrunken. Der Inspektor warf ihm nur einen Blick zu, bevor er das Haus betrat und der andere weitertaumelte. Gleich darauf stieg Wade die mit einem weichen Läufer belegte Treppe hinauf. Ein Kellner klopfte an die Tür von Zimmer achtzehn, als Wade vorbeiging, nahm aber keine Notiz von ihm. Wade betrat Nummer neunzehn und schloß hinter sich ab. Er tastete nach dem Lichtschalter, hatte ihn bald gefunden und machte Licht. Er stand in einem kleinen, ziemlich überladen eingerichteten Speisezimmer mit Rosenholztäfelung. An der Schmalseite in der Nähe des Fensters war eine Tür, die nur nach Nummer achtzehn führen konnte. Auf Zehenspitzen ging er darauf zu. Dahinter war es ganz still. Ganz vorsichtig drehte er am Türknauf. Die Tür ließ sich zwar öffnen, aber zu seinem größten Ärger mußte er feststellen, daß sich dahinter eine zweite befand. Jetzt waren auch leise Stimmen zu vernehmen — die tiefe, barsche Stimme des Mannes und die weichere von Lila. Das also war ihr Erlebnis! Einmal im Jahr legte sie wie Aschenputtel ihre alten, schäbigen Kleider und abgetragenen Schuhe ab und dinierte, vornehm und nach der neuesten Mode herausgeputzt, mit diesem alten Mann.
Um Lila so zu verwandeln, war bestimmt ein großer Aufwand nötig gewesen — ein Friseur hatte sich ihrer Haare annehmen, das Kleid schon Wochen vorher anprobiert werden müssen. All das mußte in größter Heimlichkeit und unter Mutter Oaks' Oberaufsicht geschehen sein. Lila hatte nicht gewußt, daß sie heute abend ausgehen sollte, das hätte Wade beschwören können. Sonst wäre sie am Morgen aufgeregter gewesen. Er legte das Ohr an die Tür und horchte, verstand jedoch nicht, was gesprochen wurde. Dann versuchte er es am Schlüsselloch - mit demselben Ergebnis. Wagemutig drehte er mit allergrößter Vorsicht am Türknauf, aber auch das brachte ihm nicht den gewünschten Erfolg, es war abgeschlossen. Er schaltete das Licht aus, schlich zur Tür zurück, legte sich auf den Boden und preßte das Ohr an den Spalt zwischen der unteren Türkante und dem Teppich. Jetzt verstand er wenigstens Bruchstücke der Unterhaltung. »... nein, Mr. Brown, sie behandelt mich sehr gut...« Der Mann sagte etwas über eine Erziehung in Frankreich, doch alles in allem waren d e beiden sehr wortkarg. Von Zeit zu Zeit ging die Zimmertür auf, ein Kellner entfernte das benutzte Geschirr und servierte den nächsten Gang. Einmal sagte der alte Mann etwas über Konstantinopel. Anscheinend beschrieb er Lila die Stadt. Falls irgendwann eine Bemerkung über die merkwürdige Beziehung zwischen »Mr. Brown« und dem Mädchen gefallen sein sollte, hatte Wade sie nicht gehört. Lila nannte ihren Begleiter jedenfalls immer »Mr. Brown«. Nichts deutete darauf hin, daß die beiden Vater und Tochter waren. Endlich verlangte der alte Mann die
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