Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
083 - Das Gasthaus an der Themse

083 - Das Gasthaus an der Themse

Titel: 083 - Das Gasthaus an der Themse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Wallace
Vom Netzwerk:
wollen, ehe er sie nicht auf das Schlimmste vorbereitet hatte. »Sie — sieht ein bißchen abstoßend aus, und vielleicht bekommt sie einen ihrer Anfälle, aber wenn das passiert, dann — wie sagte doch der alte Euripides . ..« Lila verstand kein Wort von dem, was er dann sagte, und sie unterdrückte ein Lächeln, denn nicht im Traum hätte sie solche Talente bei ihm vermutet. Er blieb fast eine halbe Stunde weg, und als er zurückkam, hatte sie den Eindruck, daß er ziemlich erregt war. »Komm nur herein, meine Liebe«, sagte er und trat beiseite, um die Frau vorbeizulassen, die hinter ihm stand. »Ich habe dir versprochen, daß du sie sehen darfst. Und hier ist sie.« Anna trat ein, eine magere, verhärmte Frau, blaß, mit dunklen, glühenden Augen. Eine volle Minute stand sie da und starrte Lila an, der unter diesem Blick höchst unbehaglich zumute wurde. »Ist das Delia?« fragte Anna mit tiefer, angenehmer Stimme. Oaks blinzelte Lila zu. »Ja, das ist sie«, sagte er.
    Langsam ging Anna auf Lila zu, streckte die dünnen Arme aus und ergriff die Hände des Mädchens. »Delia, mein Liebling ...«Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Du bist Delia. Kennst du mich noch, mein Kleines?« Lila schüttelte den Kopf. »Ich heiße Lila«, sagte sie. Der Name hatte eine unglaubliche Wirkung auf die Frau. Ihre Augen leuchteten auf, ihr blasses Gesicht belebte sich. »Lila, natürlich bist du Lila, mein Liebling. Du hast dich immer Lila genannt.« Im nächsten Augenblick hatte sie das erschrockene Mädchen in die Arme genommen und drückte es an sich. Lila war verwirrt, wagte aber nicht, sich aus der Umklammerung zu lösen. Verängstigt und ohne zu verstehen, hörte sie dem wirren Gestammel der Frau zu, die am Ende todtraurig fragte: »Lila, erkennst du mich denn nicht? Ich bin doch Anna!«

24
    Sekundenlang regte sich eine schwache Erinnerung in Lila. Ja, da war etwas — aber sie wußte nicht, was. Ein klares Bild tauchte in ihrem Gedächtnis auf, verschwand jedoch sofort wieder. Sie konnte es nicht fassen, und ihre Verwirrung wurde noch größer. Sanft löste sie sich aus den Armen der zitternden Frau. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Aber Anna klammerte sich weinend an sie. »Erinnerst du dich denn nicht an das Haus? An die furchtbare Nacht, in der es brannte? Und erinnerst du dich auch nicht mehr an die gnädige Frau? Die gnädige Frau ist tot, Lila . ..« Lila versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, doch ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. Flehend sah sie Golly Oaks an, und er nickte.
    »Sie hat recht, meine Liebe«, sagte er. »Sie kennt dich, sie war dein Kindermädchen.«
    »Das ist wahr. Gott segne Sie, weil Sie es ihr gesagt haben. Ich war ihr Kindermädchen, und alle haben gesagt, sie sei tot — in dem schrecklichen Feuer umgekommen. Sie haben mir diese entsetzlich verbrannten Überreste ihres Kleidchens gezeigt. -Aber ich wußte, daß du lebst, Lila, ich habe es auch der gnädigen Frau gesagt. Immer wieder. Und sie hat mir geglaubt. Immer habe ich gewußt, daß ich dich eines Tages Wiedersehen würde. Ich wußte es ganz sicher. Das Warten war schlimm. Manchmal wurde ich müde, und dann brachten sie mich in das große Haus und ließen mich nicht mehr raus. Und diese Chinesen — gräßliche kleine Leute!« Anna zitterte am ganzen Körper. Es sah entsetzlich aus, aber Oaks blieb völlig ungerührt. »Ich habe sie immer wieder beschwichtigt, Lila«, sagte er. »So bin ich nun mal. Niemand kann von mir behaupten, daß ich Frauen schlecht behandle. Wenn ich einer weh tun mußte, war es in einer Sekunde vorüber - und immer nur gut gemeint.« Die Erinnerung kam wieder, deutlicher diesmal. Anna war Lila schon irgendwie vertraut, schien schon wirklicher als die halbgeträumten Gestalten aus der Vergangenheit.
    »Darf ich bei dir bleiben?« fragte Anna. »Ich muß bei dir bleiben. Muß mich um dich kümmern — dir deine Sachen zurechtlegen, Liebling... Aber ich sollte dich wohl lieber nicht mehr Liebling nennen, du bist ja kein Baby mehr. Und ich muß es der gnädigen Frau sagen ...« »Die ist tot«, sagte Oaks.
    »Ja, tot — sie ist tot. Und deshalb weiß sie es natürlich ...« »Ich lasse Sie beide jetzt allein«, sagte Oaks und lüftete höflich den Hut. Er war sehr stolz darauf, zu wissen, wie man sich benahm. Dann ging er hinaus und sperrte Lila und Anna ein. Durch einen langen, hallenden Flur gelangte er in ein billig und geschmacklos möbliertes Speisezimmer, in dem Captain Aikness, eine halb

Weitere Kostenlose Bücher