083 - Der Mann aus der Retorte
ich einen großen Schluck Bier getrunken hatte. „Es ist wahrscheinlich, daß es ein Jude erschaffen hat."
„Der Jud' ist an allem schuld." David grinste. „Aber in diesem Fall muß ich dir recht geben, Michele. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat es ein Jude erschaffen. Für ihn sind die geheimen Bücher zugänglich. Es muß sich um einen Gelehrten handeln."
„Und wer würde da in Frage kommen?"
„Einige", sagte David geistesabwesend. „Ich werde mich mal im Ghetto umhören."
Ich wußte, daß das Ghetto eine eigene Stadt war. Sie hieß Josephsstadt. Die Juden genossen viele Privilegien und waren immer unmittelbare Untertanen des Herrschers.
„Hast du einen bestimmten Verdacht?"
Ganz schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein", sagte er abweisend, doch ich wollte es ihm nicht glauben.
Ich war nicht untätig geblieben. Auf eigene Faust hatte ich meine Nachforschungen betrieben. Dabei half mir natürlich Franca besonders. Er rannte tagelang in der Stadt herum. Überall fragte er nach dem Monster, sah sich die Häuser an, die das Ungeheuer verwüstet hatte, und lieferte mir eine Aufstellung der Mädchen, die entführt worden waren.
Mehrmals las ich mir die Unterlagen durch. Dann stellte ich eine Tabelle auf.
Der Golem - ich hatte beschlossen, das Monster so zu nennen - war fast ausschließlich in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend gesehen worden. Er hatte dreizehn Mädchen geraubt, wovon sechs als Leichen wiedergefunden worden waren. Die Mädchen waren alle jung und recht hübsch gewesen. Keines der Mädchen stammte aus einer einflußreichen Familie. Meist handelte es sich um Handwerkstöchter. Und noch etwas fiel mir auf. Der Golem war nur in der Neustadt gesehen worden, die erst 1348 von Karl IV. gegründet worden war.
Franca war sehr gründlich gewesen. Auf einem Plan hatte er die Häuser angezeichnet, die vom Golem betreten worden waren. Die meisten Häuser lagen in der Nähe des Vieh- und des Roßmarktes. Für mich war es nun völlig klar, daß ich in der nächsten Freitagnacht in die Neustadt gehen würde. Franca sollte den Roßmarkt beobachten, während ich mich um den Viehmarkt kümmern wollte. Mich wunderte, daß die Bürger nichts gegen das Monster unternahmen, aber wie mir Franca erzählte, stießen die Berichte über das Scheusal bei den meisten Bewohnern auf Unglauben.
Am Donnerstagabend war ich Zeuge eines Experimentes, das der Kaiser zusammen mit Sendivogius durchführte. Es handelte sich um eine Transmutation - eine Umwandlung von Blei in Gold. Wie ich von Dr. John Dee wußte, hatte Sendivogius das Geheimnis der Umwandlung von dem Engländer Seton, der ihm ein kleines gelbes Gestein überlassen hatte, von dem er ein winziges Stück dem Kaiser gab, der es in zerschmolzenes Blei warf. Zur allgemeinen Verblüffung verwandelte sich das Blei innerhalb weniger Minuten in pures Gold.
Rudolf ließ daraufhin zur Erinnerung an diese Transmutation eine Marmortafel im Hradschin aufhängen, auf der stand: Möge jeder das vollbringen, was der Pole Sendivogius vollbracht hat! Sendivogius war der Mann der Stunde. Ihm zu Ehren gab der Kaiser ein gewaltiges Bankett. Ein paar Jahre später fiel er beim Kaiser in Ungnade.
Am nächsten Tag unterhielt ich mich mit einigen Familien, denen der Golem Töchter geraubt hatte. Das Monster war immer auf gleiche Weise vorgegangen. Es war einfach in das Haus eingebrochen und hatte alle niedergeschlagen, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Dann hatte er das Mädchen gepackt und war verschwunden.
Ich sammelte weiterhin Informationen. Sechs der entführten dreizehn Mädchen waren tot geborgen worden, in der Moldau. Zwei Leichen hatten sich in den Streben der Karlsbrücke verfangen, drei waren auf die Kinderinsel geschwemmt worden, die sechste Leiche hatte man am Strand der Schützeninsel gefunden. Und noch etwas Interessantes fiel mir auf. Der Golem hatte alle vierzehn Tage ein Mädchen geraubt. Den darauf folgenden Tag hatte man in sechs Fällen das zuvor entführte Mädchen tot in der Moldau gefunden.
Für mich war die Situation nun ziemlich klar. Irgend jemand befahl dem Golem, alle vierzehn Tage ein Mädchen zu rauben. Daraufhin wurde das Mädchen getötet, das zwei Wochen vorher entführt worden war. Ich war sicher, daß die sieben Mädchen, die noch nicht wieder aufgetaucht waren, ebenfalls tot waren.
Und heute war der Tag, an dem der Golem nach meiner Berechnung wieder ein Mädchen rauben würde. Das wollte ich verhindern.
Ich besprach mich mit
Weitere Kostenlose Bücher