0830 - Das Vampirloch
gleich ablief, und auch Glenda hatte sich an diesen Rhythmus gewöhnt. Allerdings nahm sie sich noch die Zeit, einen Blick in die Zeitung zu werfen, die ihr ein früh aufstehender und freundlicher Nachbar jeden Morgen direkt vor die Wohnungstür legte.
Auch an diesem kalten Novembertag war es wie sonst. Das Wetter hatte nicht eben freundlich ausgesehen. Auf dem Festland schneite es bereits, doch die südlichen Regionen der Insel waren noch verschont geblieben. Die graue Wolkendecke lag relativ hoch. Der Wind fuhr Glenda unangenehm kalt ins Gesicht, als sie das Fenster für einen Moment öffnete.
Der Kaffee war längst durchgelaufen, sie schaute auf die Uhr und freute sich darüber, daß sie gut in der Zeit lag und einige Minuten länger am Tisch sitzen bleiben konnte. Sie konnte noch die Zeitung lesen, die sie erst aufschlug, nachdem sie die erste Tasse geleert und die Schnitte Vollwertbrot zu sich genommen hatte.
Vor dem Weihnachtsfest verdoppelten sich die Reklamebeilagen der Zeitungen, und Glenda fischte sie zunächst heraus, bevor sie die Zeitung aufschlug.
Dazu kam es nicht mehr.
Sie roch etwas.
Die dunkelhaarige Frau runzelte die Stirn. Sie blieb ruhig sitzen, als wäre sie auf dem Stuhl festgeleimt worden, dann räusperte sie sich und holte durch die Nase Luft.
Was war das?
Etwas hatte sie unwahrscheinlich gestört.
Der Geruch…
Blut!
Glenda bewegte ihre Zunge ebenso wie die Lippen, weil sie herausfinden wollte, ob sie sich aus Versehen gebissen hatte. Das war nicht der Fall gewesen, trotzdem blieb der Blutgeruch. Er füllte ihren Mund regelrecht aus.
Sie runzelte die Stirn, schnupperte, stand auf, ging durch die kleine Küche und stellte fest, daß er schwächer wurde, aber trotzdem noch in ihrer Nase blieb.
Glenda nahm wieder Platz, gestand sich selbst zu, ziemlich irritiert zu sein.
Sie hatte schon einiges erlebt und durchgestanden, aber Blutgeruch, der ihr in die Nase strömte, das war ihr noch nicht passiert. Und ungefährlich war es wohl auch nicht.
»Ich bin doch nicht verrückt und bilde ihn mir nur ein«, sagte sie zu sich selbst, wobei sie merkte, daß ihr der Gestank von unten in die Nase stieg. Sie zuckte zurück, allerdings mit dem Wissen, daß sich die Quelle des Gestanks in ihrer direkten Nähe befand.
Vor ihr.
Unter ihr.
Und…?
Mit spitzen Fingern faßte Glenda nach einem Reklameblatt, das aus der Zeitung hervorlugte. Das Stück Papier war ihr deshalb aufgefallen, weil es die Farbe des Blutes angenommen hatte. Ebenso dicht, ebenso rot - und auch so verdammt echt.
Zischend atmete sie aus. Kälte kroch plötzlich über ihren Rücken hinweg. Sie fing an zu zittern, und noch einmal faßte sie nach diesem roten Reklamezettel.
Sie zog ihn hervor. Sehr langsam, dabei entdeckte sie auch die einzelnen Buchstaben, die mit einer schwarzen Farbe auf den roten Untergrund gedruckt waren.
Ein Begriff fiel ihr besonders auf.
VAMPIRLOCH
Glenda Perkins las ihn einmal, dann noch einmal, und sie schüttelte den Kopf. Sie war nicht entsetzt, hätte auch nicht schreien können, ihr ging es einzig und allein um die Tatsache, daß jemand für ein Vampirloch Reklame machte.
Ihre Gedanken rasten plötzlich. Sie war nicht die Person, die darüber hinweggegangen wäre, nicht bei diesem vorhandenen Blutgeruch. Zudem arbeitete sie für John Sinclair, den Geisterjäger, und sie hatte in ihrem Leben schon einiges erlebt, das durchaus den Begriff unglaublich verdiente. Dazu zählten auch Begegnungen mit echten Vampiren.
Sie hob den Reklamebogen an und hielt ihn gegen ihre Nase. Sehr dicht führte sie ihn heran, und wieder schnupperte sie. Es gab keinen Zweifel. Genau dieses rote Blatt strömte den Geruch aus. Er war viel stärker geworden, er hatte sich in ihr Bewußtsein hineingedrängt, er war nicht mehr zu vertreiben, und Glenda erhob sich sehr langsam, wobei sie den Zettel in der Hand hielt.
Noch immer war sie von diesem widerlichen Geruch erfüllt, nur empfand sie ihn seltsamerweise nicht mehr als so stark und abstoßend. Immer wieder blickte sie auf den Text. »Kommen Sie zu uns. Erleben Sie Londons blutigsten Ort…«
Der blutigste Ort!
Er konnte gefährlich sein. Man hatte den Zettel in die Zeitung gelegt, um Menschen in das Vampirloch zu locken. Hinein in eine tödliche Falle, aber sie empfand diese Falle nicht als zu schlimm.
Plötzlich legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Glendas Gedanken bewegten sich in eine ganz andere Richtung. Sie stellte sich bereits schon jetzt vor, das
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