0844 - Tödliches Amsterdam
konnte sie einfach nicht leiden sehen.
Sie war so allein, so hilflos, und auch er selbst würde es nicht schaffen, sie zu befreien, weil er einfach zu weit von ihr entfernt gefesselt im Kanal hockte und er nur mit dem Kopf über die stinkende Oberfläche hinwegschaute.
Jolanda litt.
Ihre Füße pendelten über dem Boden. Sie waren nicht gefesselt, und Rob bekam des öfteren mit, wie sie versuchte, zumindest mit den Zehen der ausgestreckten Füße auf dem Untergrund Halt zu finden, um die Qual etwas zu erleichtern.
Es war nicht möglich.
Etwa eine Kniehöhe entfernt schwebten die Füße über dem Boden. Da konnte sie sich noch so anstrengen, sich strecken, den Boden erreichte sie als Stütze nicht.
Rob konnte ihr nicht helfen. Er versuchte aber, ihr Mut zu machen und sprach sie an.
»Jolanda…«
Rob hatte den Namen nicht laut ausgesprochen. Er wollte auch seinen Mund nicht zu heftig bewegen, aus Furcht, daß ihm die widerliche Totenbrühe in den Mund lief.
Die Frau hatte ihn nicht gehört.
Ein erneuter Versuch lauter diesmal.
Und jetzt reagierte Jolanda. Es sah so aus, als würde sie in ihren Fesseln erstarren. Für einen Moment nur, dann bewegte sie den Kopf und schaute in Robs Richtung.
Sah sie ihn?
Ja, ihr Mund bewegte sich, und sie schaffte es auch, seinen Namen auszusprechen. Wie sie das allerdings tat, ließ darauf schließen, welche Mühe sie damit hatte. Es war ihr kaum möglich, die verdammten Schmerzen zu unterdrücken. Sie bissen in ihre Gelenke hinein, sie zerrten an den Schultern, sie machten die Frau fertig, und sie nahmen ihr einfach die Kraft. Jolanda litt, aber sie versuchte, tapfer zu sein, und die Ansprache hatte ihr auch den nötigen Mut gegeben, so daß sie eine Frage stellen konnte. »Wer hat uns geholt?«
»Das Böse. Es regiert den Tunnel der hungrigen Leichen. Wir sind hier, Jolanda, wir sind gefangen. Du bist es, und ich sehe keine Chance zur Flucht.«
»Bist du gefesselt?«
»Ja. Ich sitze auf einem Stuhl. Man hat mich daran festgebunden. Wenn ich mich zu stark bewege, kippe ich um und ertrinke in diesem schrecklichen Wasser.«
»Wo sind die Leichen?«
»Noch nicht da.«
»Aber sie kommen - nicht?«
Rob Exxon verkniff sich eine Antwort. Sein linkes Auge tat ihm vom langen Starren weh, er schloß es und hörte das schmerzerfüllte Stöhnen seiner Partnerin. Er ahnte die Veränderung. Etwas tat sich in seiner Umgebung, und Rob wartete noch eine Weile, bevor er wieder hinschaute.
Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Die Veränderung war da, und er zeigte sich nicht überrascht davon, denn das Bild, das er nun zu sehen bekam, kannte er.
Die hungrigen Leichen kamen.
Im Fels - oder war es der Schlamm - hatten sie gelauert. Nun bohrten sie sich hervor, Rob sah die zahlreichen Hände, die sich aus der Masse gestreckt hatten, er sah die gespreizten Finger, und er sah auch, wie sie sich bewegten.
Hier hatte es angefangen, hier würde es enden. Der Tunnel der hungrigen Leichen sollte für Jolanda und ihn zum Schicksal werden. Für einen Moment dachte er an John Sinclair und Suko. Von den beiden hatte er nichts mehr gesehen. Sie waren verschollen, und sie würden es bestimmt auch bleiben.
Tot und begraben…
Verschollen für immer.
Die Klauen irritierten ihn. Immer wieder bewegten sich die Finger mit der dünnen Haut, doch das Ziel erwischten sie nicht.
Aber es blieb nicht dabei.
Sie wollten nicht mehr in ihrem Gefängnis stecken. Sie wollten mehr, sie wollten aus der Enge, denn die beiden Opfer gehörten jetzt ihnen. Es gab keinen Einäugigen mehr, der seine Waffe einsetzte und ihre Hände sowie die Arme zerschlug. Er war wehrlos, die andere Seite, ihre Seite, hatte gewonnen.
Und sie kamen.
Sie drückten und schoben sich vor. Arme, Schultern und die ersten schrecklichen Köpfe tauchten in das aus den Wänden fließende Licht ein, daß der grünlichen Haut einen helleren Schimmer gab. Es waren schreckliche Gestalten. Sie sahen sogar unterschiedlich aus, denn mit denen aus der Wohnung hatten sie nicht mehr viel gemeinsam.
Auf einigen Köpfen wuchsen die Haare wie graues Stroh. Böse, skeletthafte Gesichter mit lappigen, dünnen Hautfetzen und fleischlosen Lippen.
Sie krochen hervor, wie die Erben einer bösen, längst vergessenen Zeit, in der die Menschen noch größere Ähnlichkeit gehabt hatten.
Waren das die hungrigen Leichen?
Rob Exxon wußte nicht mehr, was er noch denken sollte. Was war richtig, was war falsch? Zum wiederholten Male fragte er sich, wer sein
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