0849 - Schattengesicht
sterben?«
»So ist es.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich streckte ihr den Arm entgegen. Mittlerweile war es immer dunklerer geworden, so daß wir beide uns quasi als Schatten gegenüberstanden. »Kommen wir noch einmal zu deinem Sprung in die Tiefe zurück. Was ist dort geschehen?«
»Du hast es gesehen, und du hast recht gehabt, John. Ich bin tatsächlich in die Tiefe gesprungen, ich schlug auch auf. Ich wurde zerschmettert, meine Knochen brachen, aber ich konnte mich wieder erheben. Ich habe mich erneuert.«
Ich schluckte. »Augenblick mal. Was hast du?«
»Regeneriert!«
»Langsam«, flüsterte ich und atmete tief durch. »Dein Körper hat sich also wieder von neuem aufgebaut?«
»Ja, denn alles geriet wieder zurück an seinen alten Platz. So und nicht anders ist es gewesen. Ich bin fähig zu leben, aber ich bin unfähig zu sterben.«
Ich hätte am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, tat dies aber nicht und sagte:
»Ich werde deine Worte akzeptieren, das ist schon okay, aber ich komme trotzdem damit nicht zurecht. Wenn du nicht sterben kannst, was auch dein Vater sicherlich weiß, warum hat er mich dann gebeten, dich zu retten?«
»Retten?« Die Frage klang spöttisch.
»Ja, dein Leben zu retten. Da ich es nicht geschafft habe, bin ich zu seinem Todfeind geworden. Ich habe dich bei ihm in einem gläsernen Sarg liegen gesehen, das habe ich mir nicht eingebildet. Es stimmt alles. Dein Vater hat dich geholt…«
»Nein, es waren seine Helfer, die Zwerge.«
»Meinetwegen auch sie. Das bleibt sich gleich, denke ich mal. Jedenfalls wird er doch gewußt haben, daß du in der Lage bist, nicht zu sterben. Er hätte mich doch nicht zu holen brauchen, um dich zu retten. Oder sehe ich das falsch?«
»Das stimmt schon«, gab sie zu.
»Und wo ist der Denkfehler?«
Trotz der Schatten sah ich, wie sie lächelte. »Der Denkfehler ist nicht vorhanden, und wenn, dann liegt er woanders, ganz woanders. Ich glaube, daß das Gegenteil der Fall ist.«
»Bitte?«
»Er wollte nicht, daß du mich rettest, John.«
»Sondern?«
»Er wollte, daß du mich tötest!«
Ich schüttelte den Kopf. »Das akzeptiere ich nicht, mal abgesehen davon, daß es leider Väter gibt, die ihre Kinder töten, man liest genug darüber, welchen Grund sollte ich haben, so etwas zu tun? Das will nicht in meinen Kopf.«
»Das kann ich dir auch sagen.«
»Ich bitte darum.«
»Wir stehen auf verschiedenen Seiten, John. Ich stehe auf einer anderen als du.«
Ich schaute sie an. Hatte sie mich angelogen? Stimmte alles, was ich da gehört hatte?
Schade, es war zu dunkel, in ihrem Gesicht sah ich keine Regung. Licht gab es hier nicht mehr, die Stereoanlage wurde durch eine Batterie gespeist, ich aber wollte Erica sehen und holte deshalb meine kleine Leuchte hervor.
Das Licht strahlte sie an. Und es machte ihr auch nichts aus, daß ihr Gesicht getroffen wurde. Sie zwinkerte nicht einmal. Die Pupillen schienen die Helligkeit einfach zu absorbieren. Eine Frau, die nicht sterben konnte. Sah so wie Erica Saleri jemand aus?
Wenn ja, dann war sie tatsächlich eine besondere Person. Dennoch sah ich keinen Grund, sie zu töten. »Stehen wir wirklich auf verschiedenen Seiten?« fragte ich sie noch einmal.
»Das stehen wir.«
»Warum?«
»Ich bin kein Mensch.«
»Was bist du dann?«
»Man hat mich geboren, und es steckt etwas in mir, das nichts mit einem Menschen zu tun hat. Das sehr alt ist, uralt, das mein Vater ebenfalls entdeckt haben muß. Er hat nie mit mir darüber gesprochen, aber ich weiß, daß es ihm leid getan hat.«
»Du redest von deiner Mutter?«
»Die ich nicht kenne.«
»Ist sie das Böse in dir?«
»Ich weiß es nicht. Ich merke nur, daß ich wieder anfange, wie ein Mensch zu fühlen. Das geschieht nach jeder Erneuerung, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich mir wieder eine neue Todesart aussuchen werde. Es hat alles seinen Sinn, seinen Kreislauf, und ich glaube, daß du der einzige bist, der mich töten kann.«
»Soll ich es denn tun?«
»Dir wird nichts anderes übrigbleiben, John.«
»Noch kann ich darüber bestimmen.«
Sie schüttelte den Kopf und sagte mit leiser Stimme: »Nein, das kannst du nicht. Du befindest dich im Herrschaftsbereich meines Vaters. Wer immer dort hineingerät, wird nach seinen Gesetzen leben müssen. Du bist ein Gefangener und merkst es nicht. Ich rechne damit, daß dich mein Vater zwingen wird, mich zu töten.«
»Das schafft er nicht.«
»Bist du dir da ganz
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