0854 - Jäger der verlorenen Seelen
dann?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber es ist eine Möglichkeit. Oft zieht es doch die Täter an die Orte ihrer Verbrechen zurück. Warum sollte das hier anders sein?«
»Gegenfrage. Warum sollten sie dorthin?«
Hatte sie recht? Ergab dies einen Sinn? Ich war davon nicht überzeugt, gleichzeitig aber konnte ich mich schlecht in die Gedankengänge dieses Ukrainers hineinversetzen. Und bei diesem Gedanken kam mir eine Idee. Meine Eltern lebten zwar noch nicht so lange hier in Lauder, aber sie waren integriert und kannten sich auch mit der Geschichte des Ortes aus. Möglicherweise hatte auch sie etwas über den Kindesmörder gehört. »Ich möchte dir eine Frage stellen, Mutter.«
»Bitte. Ich höre.«
»Sagt dir der Name Uliak etwas?«
Sie runzelte die Stirn, als sie mich anschaute. »Uliak?« wiederholte sie, »das klingt sehr ungewöhnlich, so fremd für uns.«
»Er war auch ein Fremder. Ein Mann, der aus Georgien stammt. Seit ungefähr fünfzig Jahren ist er tot. Und er wurde von den Bewohnern dieses Ortes umgebracht.«
Sie wußte Bescheid. Ich sah es an ihren Augen, die sich plötzlich weiteten. »Moment mal, John. Uliak – ja, ja, ich habe davon gehört. Aber ich weiß auch, daß dies eine Geschichte ist, über die man nicht mehr gern spricht. Zudem gibt es nicht mehr viele Menschen, die sich daran noch erinnern können.«
»McGeoff gehörte dazu.«
»Sicher. Er ist auch über Siebzig. Es war jedenfalls eine schlimme Sache.«
»Das ist mir auch bekannt. Sie haben diesen Mann bei lebendigem Leib begraben.«
Das war meiner Mutter neu. Ich sah, wie sie die Hände zusammenkrampfte und zu Fäusten ballte. »Meine Güte, John, wie kannst du so etwas nur behaupten?«
»Weil es eine Tatsache ist.«
»Er ist gestorben – ja. Darüber haben wir mal gesprochen. Und ich weiß auch, daß er als Kriegsgefangener gearbeitet und später furchtbare Verbrechen begangen hat.«
»Er tötete Kinder.«
»Man sagte es.«
Ich schaute meine Mutter an. »Genau diesen Uliak hast du im Lager der Travers gesehen.«
Meine Aussage hatte sie geschockt. Sie saß da und schaute mich an. Sehr langsam schüttelte sie den Kopf. Sie bewegte auch ihre Lippen, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Ihre Haut war blaß geworden, Schweiß schimmerte auf der Stirn, und sie fuhr mit einer kantigen Bewegung darüber hinweg. Es dauerte eine Weile, bis sie sich gefangen hatte. »Bitte, wen soll ich gesehen haben?«
»Uliak.«
»Den Toten? Das halbe Gerippe und den halben Menschen? Beides zusammengenäht.«
»So ist es.«
»John«, sagte sie stöhnend. »Du… du … bringst mich noch völlig durcheinander und machst mich verrückt. Das kann doch nicht angehen. Das ist einfach nicht möglich …«
»Ich sehe es so, und ich denke nicht, daß ich mich groß geirrt habe.«
»Wie soll er denn zurückgekommen sein?« flüsterte meine Mutter nach einer Pause.
»Was genau geschehen ist und welches Motiv dahintersteckt, ich kann es dir nicht sagen. Jedenfalls ist er meiner Ansicht nach wieder da. Er muß es sein. Ich habe in McGeoffs Haus Unterlagen gefunden, die darauf hindeuten. Dad ist noch dort, um weitere Chroniken zu studieren. Es ist eine böse Zeit damals gewesen. Gut, dieser Mensch war ein Verbrecher, aber es hatte niemand das Recht, über ihn zu richten und ihn dann lebendig zu begraben.«
»Das weiß ich, John. Ich denke ebenso wie du. Aber damals war Krieg gewesen. Da haben die Menschen eben anders reagiert. Vielleicht entmenschlichter oder so. Ich weiß auch nicht, wie ich es sagen soll, aber du weißt, was ich meine.«
»Natürlich, Mutter.«
Nach einem seufzenden Atemzug fragte sie: »Und was willst du nun tun, Junge?«
»Ich muß Uliak fangen, bevor er andere fängt.«
»Du glaubst daran, daß das Morden weitergeht?« Sie räusperte sich. »Daß er da wieder anfängt, wo er aufgehört hat. Damals hat er kleinere Kinder getötet. Er hat sie den Familien weggenommen, heute nahm er auch Kinder weg. Nur waren sie älter. Ich will aber wissen, was ihn dazu treibt. Du bist Polizist, John. Und Polizisten als auch Anwälte suchen immer nach Motiven.«
Ich lächelte. »Gratuliere, du hast viel gelernt, Mutter.«
»Bleibt das aus?«
»Bestimmt nicht. Du hast recht. Es wird ein Motiv geben, wobei ich sagen muß, daß dieser Uliak schon während seines Lebens mit dunklen Kräften in Verbindung gestanden haben muß. Es gibt Mörder, bei denen das nicht der Fall ist. Seine Rückkehr aber zeigt uns, daß es bei ihm so gewesen sein
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