0856 - Leas Hexenladen
die eigene Achse.
Nele rannte auf mich zu.
Celia war zurückgeblieben. Sie kniete und hatte sich klein gemacht. Sie wollte den Pfeil werfen.
Meine Kugel war jedoch schneller.
Sie wuchtete Celia nach hinten, und der noch im letzten Augenblick geschleuderte Pfeil raste in den dunkel gewordenen Himmel.
Dann war Nele da.
Sie sprang mich an. Sie war nur mehr ein schreiendes Bündel. Sie bestand aus Haß und dem Willen, zu töten und zu vernichten. Leas Plan mußte aufgehen.
Ich rollte mich zur Seite.
Nur ein Fuß erwischte mich an der Brust. Neles Bein knickte weg, sie kam aus dem Gleichgewicht und prallte zu Boden. Daß sie aufgeben würde, damit war nicht zu rechnen, und sie schnellte auch sofort wieder hoch.
Die Mündung der Beretta glotzte sie an. Nur eine Handlänge befand sie sich von ihrem Kopf entfernt, und sie war wie ein drittes Auge, dessen Leere sie erstarren ließ.
»Nun?«
»Tot«, sagte sie nur. »Du mußt getötet werden!« Sie stieß den rechten Arm nach vorn. Die Spitze des Pfeils schaute aus ihrer Faust hervor wie ein Messer.
Wieder schoß ich.
Die Kugel traf auch sie.
Sie zerriß einen Teil ihres Kopfes, bevor sie ins Gras schlug.
Geschafft!
Es gab sie nicht mehr.
Aber ich fühlte mich um keinen Deut besser, denn ich war zu einem dreifachen Mörder geworden.
Oder…?
Noch war es hell genug, um mich den schaurigen Vorgang erkennen zu lassen.
Nele war tot, aber sie war dabei, sich zu verändern. Sie alterte blitzschnell. Diesen Vorgang kannte ich von den Vampiren her, nur zerfiel sie nicht zu Staub.
Als sehr alte Frau - als eine Greisin - blieb sie liegen. Und auch sie kannte ich. Sie und die beiden anderen hatten Maureen und mich auf dieser Lichtung angegriffen. So waren sie und die jungen Frauen ein- und dieselben Personen gewesen.
Ich stand auf und ging dorthin, wo die beiden anderen lagen. Bei ihnen hatte sich das gleiche abgespielt. Auch sie waren innerhalb kürzester Zeit gealtert.
Fehlte die vierte, die Anführerin - Lea!
Sie war nicht zu sehen. Zumindest nicht auf der Lichtung. Ich wollte es genau machen und strahlte den Rand an, aber auch da sah ich nichts.
Sie war nicht in der Nähe.
Sie huschte nicht weg. Sie zog sich nicht zurück, und ich hörte auch keinerlei Geräusche.
Wo steckte sie?
Nach einigen Minuten, die für mich quälend langsam vergangen waren, hatte ich sie noch immer nicht gesehen, und mir war klar, daß sie auch nicht kommen würde. Wahrscheinlich hatte sie längst mitbekommen, was mit ihren Helferinnen geschehen war. Jetzt mußte sie ihren eigenen Plan ändern und mich in die nächste Falle fahren lassen.
Ich ließ die drei alten Frauen liegen. Um sie wollte ich mich später kümmern, falls es noch ein Später gab. Wichtig war einzig und allein Maureen Simpson. Sie wollte ich nicht auf der Lichtung liegenlassen, deshalb ging ich hin und hob den starren Körper auf.
Es war ein Gefühl für mich, das ich nicht beschreiben konnte. Ich trug hier eine tote Frau, die Vertrauen in mich gesetzt hatte, aber von mir enttäuscht worden war.
Mit ihr auf den Armen verließ ich die Lichtung und ging durch den Wald zurück. Ich spürte ihr Gewicht kaum, denn ich bewegte mich dabei wie in einer tiefen Trance.
Die Umgebung war eine andere geworden. Meine Phantasie spielte mir etwas vor. Jeder Baum, jeder Zweig, Ast und jedes Blatt schien von der Toten Abschied nehmen zu wollen.
Meine Schritte hallten nach, flüsternde Stimmen umgaben mich. Ich sah keine Bäume mehr, kein Unterholz, der Wald hatte sich geöffnet, die Natur verneigte sich vor der Toten, und ich schritt auf einer breiten Straße direkt dem Reich der Toten entgegen.
Es war schaurig, dies erleben zu müssen, und ich merkte immer wieder, wie sich mein Rücken zusammenzog und mir die Tränen wie kalte Kugeln über die Wangen rannen.
Wie lange dieser Zustand angedauert hatte, wußte ich nicht zu sagen. Jedenfalls konnte ich irgendwann den Wald verlassen und war sekundenlang durcheinander, als ich den Jaguar sah.
Die Realität hatte mich wieder.
Ich schaute zurück.
Nein, der Wald hatte sich nicht verändert. Ein sanfter Windstoß spielte mit dem Blattwerk und ließ es rascheln.
Die Tote legte ich neben den Wagen. Dann öffnete ich die Fondtür und schob die Leiche hinein. Der Rücksitz war breit genug, um ihr den nötigen Platz zu geben.
Ich öffnete die Fahrertür und stieg ein. Der Zündschlüssel verschwand im Schloß, aber ich drehte ihn noch nicht um, weil ich mit meinen Gedanken woanders
Weitere Kostenlose Bücher