0857 - Die Schnitterin
ich fühlte mich nur zur Hälfte meiner Urgestalt zugehörig. Zum anderen war ich Mensch, und so starb die eine Hälfte weg, aber die andere blieb. Ich stehe hier vor euch als meine Engelhälfte.«
Sollten wir ihr das abnehmen?
Wir mußten es, solange es keine andere Lösung gab. Wir mußten ihr einfach glauben, aber es waren natürlich noch Fragen offen.
»Dich hat man erwischt«, sagte Suko. »Du bist auf deine Art und Weise gestorben, aber eben nicht ganz. Was ist mit deinem Mann geschehen? Mein Freund hat ihn gesehen, und ich denke mir, daß du indirekt die Schuld an Thorntons Tod trägst.«
Gut, daß Suko dieses Thema angeschnitten hatte, denn der Unfall auf dieser Ausfallstraße war genau der springende Punkt gewesen.
Hier kriegte Amys ureigene Logik einen Riß.
Wieder sank ihr Kopf nach vorn. Es war ein Zeichen der Trauer, und sie hob auch gleichzeitig die Schultern. »Ich… ich … spürte seinen Ruf, Versteht ihr? Ich habe ihn in dieser Nacht rufen hören. Er war auf dem Weg, um einen Abtrünnigen zu finden, und er fürchtete sich davor, ihn allein zu stellen. Er wußte ja, daß ich auf meine Art und Weise lebte, er wollte mich deshalb um Hilfe bitten. Ich war so froh darüber, als ich den Ruf vernahm, und ich habe an nichts anderes gedacht. Ich kam zu ihm, ich wollte bei ihm sein, und ich habe einen anderen Menschen so erschreckt, daß dieser meinen geliebten Begleiter tötete. Daran ist leider nichts mehr zu ändern.«
Ich wollte auf Nummer Sicher gehen und fragte: »Dann ist er tot?«
»Ja.«
»So wie du?«
»Nein, anders.«
»Wie wir es einmal sein können?«
Sie nickte.
Ich glaubte ihr, denn ich konnte mir kaum vorstellen, daß aus diesem Klumpen Mensch noch einmal eine menschenähnliche Gestalt erwachsen konnte.
»Dann stehst du jetzt allein?«
»Ja.«
»Und willst nicht mehr zurück in dein Reich?«
»So schnell nicht. Ich werde irgendwann zurückkehren, aber ich weiß nicht, wann und wie es geschehen wird. Ich habe das Erbe meines Begleiters angenommen, und ich werde nach weiteren Abtrünnigen suchen.«
»Und sie auch modellieren?«
»Nein, über diese Gabe verfüge ich nicht. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Das habe ich Thornton überlassen.«
»Weißt du denn, wer wir sind?«
Beinahe kam es mir vor, als hätte sie auf diese Frage gewartet, denn die blassen Lippen zeigten plötzlich ein Lächeln. »Ich weiß es nicht genau, aber von dir strahlt etwas ab, das ich noch nicht einordnen kann.«
»Wirkt es negativ auf dich?«
»Nein. Neutral und erinnernd.«
»An was?«
»An etwas, das mit meiner Welt zu tun hat. Aber ich möchte euch auch warnen. Ich habe euch gesagt, was ich vorhabe. Ich will nicht, daß ihr mich daran hindert.«
»Dann soll das Morden also weitergehen«, sagte Suko.
»Es ist kein Morden. Ich muß die Abtrünnigen finden, bevor sie die Menschen zu sehr beeinflussen.«
»Wie viele gibt es von ihnen?«
»Niemand kennt die Zahlen. Sie waren einmal gut. Sie gehörten zu den guten Geistern, aber die Verlockungen des Bösen haben sie aus ihrer Welt hervorgeholt. Sie tauchten ein in das Reich der Menschen, wo sie umherschwammen und den Verlockungen auch weiterhin erlagen, denn die mächtige böse Kraft wollte auch, daß sie Böses taten. Vieles haben sie schon hinter sich gelassen. Menschen starben, sie sorgten auch für Unglücke, sie erfreuten sich an dem Leid, deshalb ist es nur recht, wenn sie vernichtet werden.«
Ich nickte. »Aus deiner Sicht hast du schon recht, aber ich frage mich, wie du sie finden willst.«
»Es gibt Hinweise.«
»Welche?«
Ihre Lippen zeigten wieder ein Lächeln. »Du bist ein Mensch, im Gegensatz zu mir, und du wirst ihren Geruch und ihre Aura auch nicht aufnehmen können. So etwas bleibt mir überlassen. Ich werde weitermachen, was auch in Thorntons Sinne ist.«
»Und was ist mit dem Haus?« fragte Suko, der mehr auf die praktischen Dinge zu sprechen kam. »Glaubst du denn, daß hier alles so bleiben kann, wie es ist? Die Leichen in den Fächern, die irgendwann einmal vermodern werden? Nein, hier wird sich vieles ändern, nicht zuletzt auch durch uns.«
Amy hatte nichts dagegen, wie uns ihre Antwort klarmachte. »Ja, ich habe zu lange als Teil eines Menschen gelebt, um dies nicht verstehen zu können. Ich kenne eure Regeln, ich kann sie nicht abschaffen. Und ich sage euch, daß dies hier mein Zuhause nicht mehr ist. Es war ein letzter Besuch hier, ich werde jetzt Abschied nehmen und mich wieder auf die Suche begeben. Es wird
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