0857 - Die Schnitterin
von ihnen Ebenbilder geschaffen.
Welch ein perverses, abtrünniges Werk, über dessen Grausamkeit ich nicht hinwegkam. Ich hatte auch den Eindruck, daß wir diesen Mann inmitten seiner Arbeit gestört hatten. Er hatte nicht sterben wollen, denn es waren zudem einige nicht belegte Laden aus der Wand hervorgefahren. Brundage lebte nicht mehr, wir standen vor seinem schrecklichen Vermächtnis und wußten nicht, weshalb er dies alles getan hatte.
Ich drehte mich nach links. Über die ausgefahrene Bahre hinweg blickte ich Suko an.
»Das war ein Schock, John. Verdammt, wahrscheinlich hast du das gleiche gedacht wie ich.«
»Sicher. Hier liegen die Vorlagen für seine Kunstwerke. Er hat sich die Menschen geholt, sie getötet und sie dann in Stein nachgebildet. Da komme ich nicht mit.«
»Und noch etwas ist rätselhaft, John. Diese Toten ähneln sich. Darüber sollte man nachdenken.«
»Sie sehen aus, als entstammten sie alle derselben Familie.«
Sie sind noch im Tod seltsam – weich oder wie ich es auch immer ausdrücken soll. Keine Frauen, sondern Männer, deren Gesichtszüge so seltsam weich waren, was auch noch im Tod zu sehen war.
Hier öffnete sich ein Rätsel, mit dem wir beide nicht zurechtkamen.
Die Laden waren in unterschiedlicher Höhe aus der Wand gefahren. Manchmal mußten wir uns sogar auf die Zehenspitzen stellen, um die Gesichter sehen zu können. Über die schrecklichen Wunden und das Blut schauten wir mittlerweile hinweg.
Dafür umgab uns noch immer die Kälte. Sie war trocken und eisig, überhaupt nicht normal. Der Schauer blieb auf meiner Haut, als ich von der makabren Wand zurücktrat.
»Wir lassen sie wieder hineinfahren!« schlug ich vor.
Damit war auch Suko einverstanden und ging vor zum Pult. Ich folgte ihm langsamer, noch immer tief in Gedanken versunken, und dachte über die Toten und deren Mörder nach.
Warum nur?
Warum waren diese Menschen, die sich so ähnelten, getötet worden? Etwa weil sie sich ähnelten? Hatte dieser Thornton Brundage sie sich nur geholt, um Vorbilder für seine Statuen zu haben, die er als Kunstwerke deklarierte?
Das konnte und wollte ich nicht glauben. Meiner Ansicht nach mußte mehr dahinterstecken. Ich hatte in meinem Leben sehr viel erlebt, gesehen und auch entsprechende Motive kennengelernt, über die ich im nachhinein nur den Kopf schütteln konnte. Ich hatte sie letztendlich akzeptiert, aber nie richtig begriffen, weil ich es nicht schaffte, mich in schwarzmagische Praktiken voll einzudenken.
Hier war ebenfalls etwas in diese Richtung hin geschehen, aber das eigentliche Motiv dahinter sah ich nicht. Aus reiner Mordlust konnte der Bildhauer die Menschen nicht umgebracht haben. Wenn ich es recht überlegte und dabei in Betracht zog, wie sehr sich die Toten doch glichen, mußte ich einfach davon ausgehen, daß Brundage Jagd auf eine bestimmte Gruppe gemacht hatte.
Das würden Suko und ich herausfinden müssen. Ansonsten sah ich keine Lösung.
Wir waren vor dem Pult stehengeblieben. Bei uns zeichnete sich noch der Schock auf den Gesichtern ab.
»Das wird ein harter Brocken, John.«
»Sicher, sehr hart. Ich will sie trotzdem verschwinden lassen. Wir wissen ja jetzt, wie es läuft.« Ich umfaßte wieder den Schlüssel und drehte ihn vorsichtig nach links.
Sofort erklang wieder das Summen.
Noch am Pult stehend wandte ich mich um und schaute zu, wie sich die Laden mit ihrem makabren Inhalt in Bewegung setzten und wieder in der Wand verschwanden.
»Perfekt«, murmelte Suko.
»Was sagst du?«
»Perfekt, John. Dieser Thornton Brundage ist perfekt. Er hat an alles gedacht.«
»Das kannst du laut sagen.«
Die Laden verschwanden fast gleichzeitig in der Wand. Mit einem letzten Ruck stockten sie und steckten fest. Kein Griff ragte hervor, die Wand war glatt. Bis auf einige Blutflecken an einer bestimmten Lade wies nichts mehr auf die Toten hin.
Ich hob die Schultern, die Arme ebenfalls und ließ sie wieder nach unten sinken. »Warum, Suko, warum hat dieser Mensch so viele Morde begangen? Es will mir nicht in den Kopf.«
»Und keinem ist etwas aufgefallen.«
»Richtig. Das kommt noch hinzu. Niemand hat sie vermißt. Es wurde keine Anzeige aufgegeben. Es drehte sich hier alles um Mord und um die verdammten Statuen.«
»John«, sagte Suko und räusperte sich. »Wir beide müssen davon ausgehen, daß wir es nicht mit normalen Taten zu tun haben. Das war kein normaler Täter, keiner, der durchdrehte und seinen Emotionen einfach freien Lauf ließ. Da
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