0859 - Höllenliebe
schlechtes Gewissen hatte er schon. Vor allen Dingen deshalb, weil er dem Abbé nichts von der Begegnung mit dieser anderen Person erzählt hatte. Im nachhinein sah er es als einen Fehler an, aber er wollte nicht mehr zurücklaufen, um es ihm zu sagen. Trotzdem hielt er die Augen offen, um nach dieser anderen Person Ausschau zu halten. Im Zug sah er sie nicht und auch nicht an der Wagentür, wo sich andere Fahrgäste drängten, die die gleiche Idee gehabt hatten wie Pierre. Eine Familie mit zwei Kindern stieg vor ihm aus. Die beiden Mädchen fragten ihren Vater immer wieder, ob der Zug jetzt auf Schienen über das Wasser fahren würde, und der gestreßte Familienvater konnte nur die Augen verdrehen und die Frage verneinen. Er schaffte es nicht, eine genaue Antwort zu geben. Die Mutter stieg hinter ihnen aus und lächelte.
Auch Pierre verließ den Zug.
Treppen führten an das Oberdeck, aber auch zu einem Zwischendeck, wo die Autos parkten. Das war auch für Pierre neu. Er nahm sich vor, sich dort zuerst umzuschauen und war erstaunt, wie exakt die Fahrzeuge in diese Halle hineingeleitet worden waren. Der Verladevorgang war bereits beendet worden. Die Fahrer und auch ihre Beifahrer hatten die Autos verlassen und sich an das Oberdeck begeben, wo sie auch etwas trinken oder essen konnten.
Pierre blieb noch unten.
Es kam ihm seltsam vor, durch diese Halle zu gehen. Überall standen die Wunderwerke der Technik, die Sklavenmacher der Menschen. Große und kleine Autos, teure und billige, neue und alte, verteilt wie schlafende Tiere, die nur darauf warteten, geweckt zu werden.
Ein typischer Geruch durchwehte die Halle. Es roch nach Auspuffgasen und auch nach Gummi. Die Metallwände waren graugrün gestrichen, und das leichte Schwanken deutete an, daß sich Pierre wirklich auf einem Schiff befand.
Er hatte die Halle durchwandert und wollte sich auf den Rückweg machen.
Noch ein paar Personen verließen ihre Wagen. Sie schlugen die Türen zu, und die Echos dieser Geräusche unterbrachen die Stille. Pierre wollte zu den Treppen oder Niedergängen gehen, die auf das Oberdeck führten. Er hatte es dem Abbé ja nicht gesagt, aber das Frühstück hatte ihn nicht satt gemacht. Wenn er sich schon nicht rasieren konnte, dann wollte er wenigstens nicht hungrig herumlaufen. Er würde im Restaurant sicherlich noch ein Frühstück bekommen.
An den seltsamen Fahrgast dachte er nicht mehr, denn die Umgebung lenkte ihn zu stark ab. Er nahm jetzt den Weg, der an der Steuerbordwand entlangführte. Links von ihm parkten die Autos hintereinander. Es waren auch zahlreiche Geländewagen dabei, deren Aufbauten die anderen Fahrzeuge überragten.
Zwischen einem Geländewagen und einem normalen Citroën sah Pierre eine Bewegung. Aus dem Schatten des höheren Fahrzeugs trat eine Gestalt, ein Mann.
Er blieb direkt vor Pierre stehen und versperrte ihm den Weg.
Es war die Person aus dem Zug!
***
Pierre durchfuhr der Schreck. Er war ebenfalls stehengeblieben und hatte nun Zeit genug, sich diese Person anzuschauen, auch wenn das Licht nicht so berauschend war und der Mann noch immer seinen Hut trug. Den aber hatte er zurückgeschoben, so daß die Stirn freilag. Mehr allerdings nicht.
Der Mann sah seltsam aus. Ein Rieseln durchfuhr Pierre. Er wußte selbst nicht, woran es lag. War es das Gesicht des Fremden, das auf ihn eine beinahe erotische Faszination ausübte und ihm zugleich die Schauer der Angst über den Rücken fließen ließ?
War er überhaupt ein Mensch?
Natürlich! Doch er strömte etwas aus, das nicht sehr menschlich wirkte. Es war eine ungewöhnliche Kälte, die Pierre frösteln ließ.
Das Gesicht war sehr glatt. Wegen des zurückgeschobenen Hutes gut zu erkennen. Hinzu kam der weibische Ausdruck. Es mochte am Mund des Mannes liegen, dessen Lippen etwas zu stark geschwungen waren, um als männlich zu gelten.
Aber das alles vergaß Pierre, als er in die Augen schaute. Da mochte die Nase des Fremden noch so männlich wirken, die Augen dieser Person waren es nicht.
Darin stand ein Ausdruck, den der junge Templer beim ersten Hinschauen nicht ausloten konnte. Er war eisig, und er vermittelte eine Botschaft.
Er las den Tod darin!
Ja, so kalt konnte sich nur der Tod zeigen oder der Wille, einen Menschen zu töten, und es gab nur einen Menschen in der Nähe des Mannes und in dieser leeren Halle.
Das war Pierre!
Kein Wort war zwischen ihnen gefallen. Sie verstanden sich wortlos. Sie wußten genau, was der eine vom anderen wollte, und
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