086 - Das Grab des Vampirs
getrieben habe.
Plötzlich tauchte eine unförmige Gestalt vor ihr auf. Sie erschrak und drückte sich eilig in den Schatten eines Baumes. Bewegungsunfähig verharrte sie in ihrem ungenügenden Versteck und blickte auf den Mann, der gebeugt und mit schlenkernden Armen durch den Park lief. An der ganzen Art, wie er sich bewegte, glaubte sie, den Blutmörder von der Landstraße bei St. Brieuc wiederzuerkennen. Noch hatte er sie nicht gesehen. Sie hörte seine Schritte auf dem Kies, und ihr fiel auf, daß er sich – ebenso wie sie – ständig im Schatten hielt.
Über ihr krächzte ein Uhu im Geäst eines Baumes. Sie zuckte zusammen. Der Mann blieb stehen und wandte ihr das Gesicht zu. Wieder glaubte sie, gelbe Wolfsaugen aufleuchten zu sehen. Sie hielt die Luft an und preßte sich zitternd an den Baumstamm. Wenn er sie entdeckte, war sie verloren. Irgend etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte keinen Laut von sich geben. Ihre Glieder waren wie gelähmt; sie wollte weglaufen, aber sie konnte sich nicht bewegen.
Schier endlos lange Minuten verstrichen, dann machte der Blutmörder einen ersten, zögernden Schritt auf sie zu. Ira biß sich auf die Lippen und wich zurück.
Da rollte ein Wagen durch das Tor des Parks auf das Schloß zu. Die Lichtkegel glitten wie suchende Arme über die Beete. Ira wandte ihre Blicke für einen kurzen Moment von dem unheimlichen Mann ab, und im nächsten Moment war er verschwunden, als hätte ihn der Boden verschluckt. Sie sah sich voller Panik um. Er mußte sich in die Zierbüsche geworfen haben. Dort lag er jetzt vielleicht und wartete.
Sie drückte sich noch tiefer in die Schatten, ängstlich darauf bedacht, nicht von dem Lichtkegel erfaßt zu werden. Der Wagen hielt vor dem Schloßportal. Die Büsche zwei Schritte neben ihr wurden von den Scheinwerfern angestrahlt. Mußte man sie nicht gegen den hellen Hintergrund sehen können?
Sie war versucht, einfach zum Portal zu laufen. Wie aber hätte sie erklären sollen, daß sie dieses Kleid angezogen hatte? Es gehörte ihr nicht. Sie nahm sich vor, sofort ins Schloß zu gehen, wenn es dort etwas ruhiger geworden war.
Dann entdeckte sie die unförmige Gestalt, die sich weit von ihr entfernt über eine mondbeschienene freie Fläche schleppte und danach in der Dunkelheit verschwand. Der Mörder war geflohen. Sie atmete auf. Fast teilnahmslos beobachtete sie, wie zwei Franzosen, die zu den Gästen des Hauses gehörten, ins Schloß gingen.
Einer der beiden Männer kam wenig später zurück, holte noch ein Gepäckstück und schaltete die Scheinwerfer aus. Danach war Ira wieder allein im Park.
Sie fragte sich, wie der Blutmörder überhaupt hatte hierher kommen können. Offensichtlich suchte er sie, die einzige Zeugin, die ihn gesehen hatte. Wollte er ihr ebenfalls die Kehle mit den Zähnen zerreißen?
Dieser dämliche Inspektor Poullais hatte offensichtlich die Presse unterrichtet, und dieser Kerl hatte in der Zeitung gelesen, wo sie sich aufhielt, dachte Ira ärgerlich.
Ihre Erregung und Angst legten sich. Sie ging einige Schritte auf das Schloß zu, da hörte sie jemanden gedämpft pfeifen.
Ira wandte sich um. Am Rande des Zypressenwäldchens stand eine große, schlanke Gestalt und winkte ihr zu.
Der Comte!
Sie blieb unschlüssig stehen. Er hob erneut einen Arm, und Ira ging schließlich auf ihn zu, entschlossen, nur ein paar unverbindliche Minuten zu bleiben. Ab und zu blickte sie zum Schloß hinauf. Alle Fenster waren dunkel. Die beiden Franzosen, die kurz vorher gekommen waren, mußten unverzüglich ins Bett gegangen sein, oder sie wohnten nach hinten raus.
„Sie haben mich lange warten lassen, meine Liebe“, sagte der Comte mit einschmeichelnder Stimme.
Ira vergaß augenblicklich, was sie sich vorgenommen hatte, als sie seine traurigen Augen sah. Comte Maurice de Rochelles bot das Bild eines verlorenen Mannes, der sich verzweifelt und vergebens gegen ein unerbittliches Schicksal wehrt.
„Stellen Sie sich vor, ich habe den Mann gesehen, der bei St. Brieuc ein Mädchen getötet hat“, wisperte Ira. „Ich glaube, er sucht mich, weil er weiß, daß ich die einzige bin, die ihn identifizieren kann.“
„Wer kann schon einen anderen Menschen identifizieren“, entgegnete der Comte rätselhaft. „Die Nacht verändert die Menschen. Niemand ist noch so, wie er am Tage war.“
Er legte ihr eine Hand auf den Arm. Ihr war, als würde ihre Umwelt versinken; sie hörte seine Stimme und konnte nicht mehr klar denken;
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