086 - Das Grab des Vampirs
kleines Kompliment, über das sie überraschend entzückt war. Sie blickte ihn mit blitzenden Augen an, lächelte ihm zu und tändelte mit ihm. Er fühlte sich geschmeichelt, bis er merkte, daß sie dem Grafen verstohlene Blicke zuwarf. Da wurde ihm klar, daß sie das gleiche Spiel mit ihm trieb, wie er mit ihr; er wollte Ira eifersüchtig machen, sie den Comte.
Runge ließ sie enttäuscht stehen und ließ sich von Lord Wellsley in ein Gespräch über Fußball verwickeln. Der Engländer erwies sich als Experte in dieser Sportart.
Ira Bergmann sah nicht, was um sie herum vorging. Sie hatte nur Augen für den Comte, dem sie immer mehr erlag; sie konnte sich ihm nicht mehr entziehen. Als sie etwa eine halbe Stunde miteinander geplaudert und geflirtet hatten, meinte er, man könnte sich hier in der Gesellschaft der anderen doch nicht so unterhalten, wie man es eigentlich wollte. Er fragte sie, ob sie später, wenn sich alles zur Ruhe begeben hatte, noch einmal in den Park kommen wollte.
„Ich würde Sie gern am Rande des Zypressenwäldchens in der Nähe des Schlosses treffen“, sagte er. „Sie wissen, wo das ist?“
Er fragt nicht, ob ich komme, sondern nur, ob ich weiß, wohin ich kommen soll, dachte sie und hörte sich gleichzeitig sagen, daß sie das Wäldchen kennen und kommen würde.
Er neigte sich über ihre Hand und küßte sie.
„Ich bin voller Ungeduld“, erklärte er.
Sie blickte ihm nach, wie er zu Alphonse de Marcin ging und mit ihm eine Unterhaltung begann. Irgendwie war sie überrascht und verärgert, daß er das Gespräch einfach abbrach und davonging, nachdem er seine Zusage erhalten hatte. Warum habe ich überhaupt gesagt, daß ich kommen werde, fragte sie sich. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Schließlich war sie alt genug, um zu wissen, daß ein Mann wie er sich nicht zu nächtlicher Stunde mit ihr im Park treffen wollte, um den Mond zu bewundern oder dem Zirpen der Grillen zu lauschen.
Ich werde nicht gehen, dachte sie und begab sich zu Runge, der noch immer mit Lord Wellsley plauderte und sich offensichtlich ausgezeichnet amüsierte.
Im Schloß war es still. Ira saß auf einem Stuhl vor dem Bett und blickte auf den Schrank. Unsichtbare Fäden schienen sich von dort zu ihr zu spinnen. Der Schrank zog sie mit unwiderstehlicher Gewalt an, so sehr sie sich auch dagegen sträubte. Sie wollte nicht aufstehen, aber sie stand auf. Als sie den Lichtkegel des hereinfallenden Mondlichtes passierte, blieb sie stehen und sah hinaus. Sie beobachtete eine Fledermaus, die zwischen den Baumwipfeln hin und her taumelte, und glaubte, gelbliche Augen aufleuchten zu sehen. Das Tier flatterte bis vor das Fenster. Seine scharfen Krallen kratzten unangenehm kreischend über das Glas, und dann verschwand es wieder in die Dunkelheit.
Ira wandte sich ab, öffnete den Schrank, knöpfte ihr Kleid auf, ließ es achtlos fallen, griff nach dem blauen Abendkleid und streifte es sich über. Es saß, als sei es ihr auf den Leib geschneidert worden. Dann nahm sie noch ein Cape aus dem Schrank, legte es sich um die Schultern, schlüpfte in hohe Schuhe und verließ ihr Zimmer. Vor der Tür blieb sie stehen und lauschte. Aus dem Zimmer der Wellsleys war lautes Schnarchen zu hören, im Zimmer von Runge war es still.
Lautlos eilte Ira die Treppe hinab bis in die große Halle. Hier blieb sie mit klopfendem Herzen stehen. Ihre Blicke wanderten von einer Ritterrüstung zur anderen. Waren sie wirklich leer? Oder verbarg sich jemand in ihnen und verfolgte jeden ihrer Schritte?
Sie fürchtete sich. Dennoch lief sie nicht in ihr Zimmer zurück, weil sie sich auch dort nicht sicher fühlte. Vom Kleiderschrank ging etwas aus, das sie erschreckte und beunruhigte.
Als die große Tür des Schloßportals hinter ihr zufiel, atmete sie erleichtert auf. Von der See her wehte eine schwache, kühle Brise. Ira fröstelte. Sie zog das Cape fester um ihre Schultern. Niemals zuvor hatte sie ein so tief ausgeschnittenes Kleid getragen. Sie hätte es nicht gewagt, sich damit in der Öffentlichkeit zu zeigen. Jetzt verstand sie selbst nicht mehr, weshalb sie es angezogen hatte; ausgerechnet zu ihrem ersten Rendezvous mit dem Comte Maurice.
Ira hielt sich im Schatten der Bäume, um von einem möglichen Beobachter im Schloß nicht gesehen werden zu können. Sie fürchtete sich vor der scharfen Zunge der Lady Tessa, die sich sicherlich nicht scheuen würde, vor der ganzen Runde zu fragen, was sie denn zu so später Stunde im Park
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