086 - Das Grab des Vampirs
sie antwortete, aber sie wußte nicht, was sie sagte.
Eine Fledermaus strich über ihren Kopf hinweg. Sie schlug unwillkürlich nach dem Tier. Der Comte hielt ihre Hand fest.
„Nicht doch!“ bat er sanft. „Keine Fledermaus wird Sie jemals berühren oder verletzen. Ihre Sinne verraten ihr selbst bei absoluter Dunkelheit, wo Sie sind. Sie brauchen keine Angst zu haben.“
Er öffnete ihr das Cape. Ihre Hände sanken herab, und seine Blicke richteten sich auf ihren weitgehend entblößten Busen.
„Sie sind wundervoll, Mademoiselle.“
Sie war wehrlos gegen seine Hände und machtlos gegen seine Lippen. Sie wollte es nicht, aber sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und preßte sich an ihn; sie erwiderte seine Küsse und sie drängte ihm ihren Körper entgegen.
Seine Lippen glitten über ihre Wangen zu ihrem Hals. Sie hörte die Fledermaus über sie hinwegflattern, und ihr war, als verspürte sie einen leichten Stich am Hals. Dann wurde alles dunkel um sie und sie verlor das Bewußtsein.
Dietmar Runge fand keine Ruhe. Immer wieder mußte er daran denken, wie Ira den Comte de Rochelles angesehen hatte. Ira hatte sich genauso verhalten wie June. Er verstand das nicht. Er kannte die Fotografin als selbstbewußtes und oft kühles Mädchen, das sich gegen alle romantischen Anwandlungen sträubte und sich stets bemühte, so emanzipiert wie nur möglich zu tun; obwohl sie sicherlich alles andere als emanzipiert war; vermutlich wußte Ira gar nicht einmal, was das eigentlich war.
Gegen dreiundzwanzig Uhr glaubte er, Geräusche in dem Zimmer Iras gehört zu haben. Er lauschte eine geraume Weile, hörte dann jedoch nichts mehr. Schließlich erhob er sich und ging zur Tür. Erst als er die Tür öffnete, fiel ihm auf, daß er ja einen Schlafanzug trug. So konnte er unmöglich zu Ira gehen. Sie würde ihn mißverstehen. In der ihr eigenen spöttischen Weise würde sie ihn zurückweisen, bevor er überhaupt zu Wort gekommen war.
Erbittert preßte er die Lippen zusammen. Er hatte sich alles etwas anders vorgestellt, als sie sich entschlossen hatten, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Er hatte keineswegs an ein Doppelzimmer gedacht, hatte jedoch gehofft, Ira wesentlich näher zu kommen, als er ihr bisher gekommen war. Nun schien es, als sei zwischen ihnen eine tiefe Kluft entstanden, die kaum noch zu überbrücken war. Er wußte nicht, warum. Er wußte nur, daß er nichts dagegen hatte tun können und daß es weder seine noch Iras Schuld war.
Rasch streifte er sich eine Sommerhose und einen leichten Pulli über. Dann tappte er barfuß zum Zimmer Iras hinüber und klopfte an die Tür. Als er keine Antwort bekam, drückte er sie entschlossen auf, trat ein und näherte sich dem Bett.
Betroffen blieb er stehen. Das Bett war leer.
Sofort kam ihm der Gedanke, daß sie bei dem Grafen sein mußte, doch dann wies er diesen Verdacht zurück. Ira war kein Mädchen, das auf das Zimmer eines Mannes ging, kaum daß sie ihn kennengelernt hatte. Es gab nur eine einzige Möglichkeit: sie mußte im Park sein. Dort konnte sie den Grafen getroffen haben.
Der Medizinstudent eilte die Treppe hinunter. Er dachte gar nicht daran, Ira so lange mit dem Comte allein zu lassen, bis etwas passierte, was nicht mehr rückgängig zu machen war. Vor dem Portal zögerte er, weil er nicht wußte, wohin er sich wenden sollte. Schließlich ging er ziellos in den Park hinein. Dabei war er sich durchaus bewußt, daß er eine peinliche Überraschung erleben konnte. Er pfiff zunächst leise, dann etwas lauter vor sich hin.
Als er eine Zierbuschgruppe erreichte, blieb er stehen. Deutlich vernahm er Schritte auf dem Kies. Er zog sich in den Schatten eines Baumes zurück. Der Unbekannte mußte etwas gehört haben. Er verharrte auf der Stelle. Runge wollte bereits weitergehen, als der andere sich bewegte. Der Kies knirschte unter seinen Füßen.
Und dann sah er den anderen. Er war froh, daß er sich nicht von der Stelle gerührt hatte, denn der Fremde machte einen unheimlichen Eindruck auf ihn. Eine unbestimmbare Drohung ging von ihm aus. Die Gestalt wirkte unförmig. Vornüber gebeugt eilte sie taumelnd an ihm vorbei. Runge dachte an Ira. Wenn sie diesem Menschen begegnet war, konnte alles passiert sein. Voller Ungeduld wartete er, bis der andere sich genügend von ihm entfernt hatte, dann rannte er in der Richtung weiter, aus der der Unheimliche gekommen war.
Gleich darauf entdeckte er einen hellen Fleck unter einigen Zypressen und lief darauf zu.
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