0862 - Der Leichenmantel
was - oder?«
»Stimmt.«
»Und was?«
»Ich überlege.«
»Das ist immer gut.«
»Wieso ist das gut?«
»Es trainiert das Gedächtnis.«
»Ach, hör auf, John. Du sprichst mit mir wie mit einem kleinen Kind. Ich bin schon fast erwachsen.«
»Das habe ich nie bestritten.«
»Und deshalb überlege ich auch wie eine Erwachsene und denke darüber nach, ob ich euch das andere auch noch sagen soll, daß man sich so erzählt.«
»Von den Nonnen, sage ich mal.«
Sie wiegte den Kopf. »Ja und nein, es kommt darauf an. Von einer alten Frau habe ich mal etwas gehört, daß es in dem Kloster nicht ganz geheuer sein soll. Dort ist mal jemand erfroren, und keiner hat ihm geholfen.«
»Wer denn?«
»Ein Mann.«
»Keiner geholfen! Die Frauen waren doch da. Sie konnten ihn doch nicht einfach erfrieren lassen.«
»Falsch, falsch, falsch.« Sie hüpfte auf dem Sitz. »Das war vor den Nonnen.«
»Und woher weißt du das so genau?«
»Weil die alte Frau es berichtet hat. Aber sie ist tot. Sie hat auch uns Kindern nichts mehr erzählt, weil die Eltern das nicht haben wollten…«
»Aber sie sprach von dem Erfrorenen.«
Heftiges Nicken. »Und von seinem bösen Fluch oder Versprechen.« Sie brachte ihr Gesicht näher an mein Ohr. Als sie flüsterte, kitzelte Carlas Atem über mein Gesicht hinweg. »Dieser Mann, der da erfroren ist, hat vergeblich um einen Mantel gebeten. Das war wie die Geschichte vom Heiligen St. Martin. Aber der hat seinen Mantel geteilt und die eine Hälfte dem Bettler gegeben. Der im Kloster ist erfroren. Er muß fürchterlich gelitten haben, und die alte Frau hat uns erzählt, daß er in seiner Not den Satan anrief.« Sie schauderte und kriegte eine Gänsehaut.
»Kam der Satan denn?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Carla. »Jedenfalls soll er einen Mantel erhalten haben.«
»Woher denn?«
»Von Menschen, nur ist es ein besonderer Mantel gewesen. Aus.« Sie schaute sich um, ob uns auch niemand hörte. »Aus Menschenhaut« flüsterte Carla dann. »Ein Mantel aus Menschenhaut. Ist das nicht schlimm?«
Da hatte sie nicht gelogen, es war schlimm, sollte die Geschichte denn so stimmen. Ich war skeptisch, auch Suko, der das meiste verstanden hatte, verzog das Gesicht.
»Das habe ich euch noch sagen wollen«, erklärte Carla.
»Danke.« Ich streichelte ihre Wange. »Kennst du noch welche dieser Schauermärchen?«
Die Frage hatte ihr nicht gepaßt, denn sie versteifte sich. »Schauermärchen? John, ich weiß nicht, ob das Schauermärchen sind. Das ist alles passiert.«
»Gut, dann glauben wir dir.«
»Toll.« Sie schaute auf ihre Uhr. »So, ich muß jetzt nach Hause und mich auch um Naomi kümmern. Ich bin nämlich als ihre Krankenschwester angestellt. Außerdem gibt es bald Essen.« Sie öffnete die Tür, sprang aus dem Wagen und lief davon.
Zwei nachdenkliche Augenpaare schauten Carla nach. »Was denkst du darüber, John?«
»Das ist schwer.«
»Phantasie?«
»Ein Mantel aus Menschenhaut? Ein Leichenmantel? Gibt es so etwas? Kann es das geben?«
»Ich habe mir abgewöhnt, zu sagen, das ist unmöglich. Aber ich will mich nicht wiederholen, du kennst das selbst. Fahren wir?«
Ich nickte.
Suko startete den Wagen.
Ein Mantel aus Menschenhaut, ein Leichenmantel… unmöglich, seltsam und unheimlich. Nur wollte mir dieser Begriff nicht aus dem Kopf.
***
Sobald die Sonne tiefer gesunken war, nahm das Kloster eine andere Farbe an. Es wirkte düster und bedrohlich.
Die Gegend um das Kloster war ruhig. Stille - schwer und bedrückend, wie eine Last.
Wir rollten in diese Stille hinein und fühlten uns erst dann nicht mehr als Störenfriede, als der Motor des Geländewagens verstummt war. Dann stiegen wir aus.
Unsere Gesichter zeigten einen nicht eben fröhlichen Ausdruck, denn wir wußten, daß uns zehn Leichen erwarteten, und da vergeht einem das Lachen.
Hoffentlich waren es zehn normale Leichen, und hoffentlich waren sie nicht zu Zombies geworden, denn das wiederum spukte nach wie vor in unseren Hinterköpfen.
»Gehen wir sofort hinein, oder schauen wir uns erst um?« fragte mein Freund.
»Nein, sofort.«
Suko hatte der Klang meiner Stimme nicht gefallen. »He, was ist los mit dir?«
»Nichts.«
Das wollte Suko nicht glauben. »Bist du nervös, alter Junge?«
»Ja.« Ich hatte nicht gelogen. Die Nervosität steckte in mir. Sie war wie eine Klammer, die alles festhielt. Es mochte an meinem schlechten Gefühl liegen und an der damit verbundenen Unruhe.
Auch grübelte ich darüber
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