0862 - Eiswind der Zeit
war, wußte er Schönheit und Häßlichkeit doch zu unter-scheiden.
Die Frau in dem langen, fließenden Kleid war eine Schönheit.
Sie stand auf dem Podium wie eine Göttin, und ihre bronzene Haut schimmerte durch den transparenten Stoff ihres Gewandes. Das lange, silberne Haar reichte weit über ihre Schultern hinab, und ihr klassisches Profil verriet stolze Überlegenheit.
Gebannt starrte Hotrenor sie an und bedauerte für einen Moment, keiner ihrer Priester zu sein, die ehrerbietig vor ihr knieten und ihr Opfergaben darboten.
Ohne aufgehalten zu werden, war er an den Wachen vorbeigegangen, die zwischen den Säulen beim Eingang standen. Sie waren die einzigen Männer, die noch andere Waffen als nur Messer trugen. Die Spitzen ihrer Wurfspeere schienen vergoldet zu sein.
Sie schimmerten im Licht der hochstehenden Sonne.
Nun stand er mitten in der Menge, die der Schönheit huldigten.
War sie ihre Göttin oder nur ihre Oberpriesterin?
Im Hintergrund der weiten Halle hatten sich im Halbkreis die schönsten Jungfrauen gruppiert, die Hotrenor je zu Gesicht bekommen hatte. Ihr eintöniger Gesang wirkte einschläfernd und zugleich hypnotisierend. Die Menge begann, sich im Takt zu wiegen.
Unwillkürlich wiegte Hotrenor sich mit, wobei er hin und wieder in den Körper einer der anwesenden Personen eindrang, ohne daß diese auch nur das Geringste davon bemerkt hätte. Es war eine gespenstische Situation. Für die unbekannten Vorfahren der Terraner hingegen mußte sie Realität sein, reale Gegenwart und echtes Geschehen.
Was singen sie, Harno? dachte Hotrenor konzentriert.
Das Energiewesen konnte in diesem Fall als Dolmetscher dienen, auch wenn er draußen und für den Laren jetzt unsichtbar blieb.
Die Antwort kam prompt und deutlich: Sie beten ihre Göttin an, Hotrenor. Eine Kulthandlung, geschehen vor vielen tausend Jahren. Sie bringen ihr Opfer dar und erbitten ihre Gnade für die nächste Ernte, von der ihr Leben abhängt. Sie selbst hat keine Gedanken, oder sie vermag sie abzuschirmen.
Ich kann von ihr nichts empfangen.
Hotrenor kannte die terranischen Mythen und Sagen zu wenig, um damit etwas anfangen zu können. Er wußte nur, daß längst vergessene Geschehnisse in solchen Mythen und Religionen weiterlebten, nicht nur bei den Terranern, sondern bei allen intelligenten Völkern der Galaxis.
Er wurde abgelenkt, als man eine junge Ziege hereinführte und auf einem flachen Stein opferte. Das frische Blut wurde in einer Schale aufgefangen und der bronzenen Schönheit zu Füßen gestellt. Dabei veränderte sich der Gesang, er wurde rhythmischer, leidenschaftlicher. Die Menge verfiel in eine Art von Ekstase. Hotrenor gab sich alle Mühe, kühl und beobachtend zu bleiben.
Was geschieht jetzt, Harno? fragte er.
Die Göttin muß das Opfer annehmen. Zum Zeichen, daß sie für das Gedeihen der Ernte sorgen wird. Da ich keinerlei Gedankenimpulse von ihr empfange, weiß ich auch nicht, wie sie reagieren wird. Sie kann keine Terranerin sein. Was aber ist sie dann?
Wenn Harno es nicht weiß, wie soll ich es denn wissen, dachte Hotrenor verwirrt, ohne sich direkt an das Energiewesen zu wenden.
Trotzdem teilte Harno mit: Sie kann die Überlebende einer Raumexpedition aus einem anderen System sein. Bemerkst du die Unterschiede zu den Eingeborenen? Sie ist keine von ihnen.
Die Unterschiede waren gering, aber sie waren da.
Vor allen Dingen war sie fast einen Kopf größer als die Anbetenden, sie mußte ihnen als eine Riesin erscheinen. Dieser Eindruck wurde durch das lange, halb transparente Ge-wand nur noch verstärkt, das ihre Haut durchschimmern ließ. Sie war ungemein schlank und gut gewachsen.
Wie eine Göttin, in der Tat! durchfuhr es Hotrenor-Taak.
Sie wird es eines Tages werden, teilte Harno mit.
Wieder änderte sich der Gesang. Er wurde lebhafter und noch rhythmischer. Die Schön-heit auf dem Podest ließ sich die Opferschale reichen, streckte die Arme nach oben und hielt sie über den Kopf. Ein Jubelschrei brauste durch den Tempelraum.
Die Göttin nahm das Opfer an.
Und wieder geschah etwas Seltsames, das Hotrenor-Taak sich nicht erklären konnte: die Schale in den Händen der „Göttin" wurde langsam unsichtbar, bis sie endgültig verschwunden war. Ihre Hände waren leer, als sie wieder herabsanken.
Nun schleppten die Eingeborenen Körbe mit Früchten aller Art herein und bauten sie vor dem Podium auf. Beim Heiligen Konzilsrat, dachte Hotrenor unwillkürlich, was soll sie mit dem ganzen Zeug anfangen?
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