0863 - Auf den Schwingen des Todes
für einen Werwolf hielten, hatte sie nicht. Dazu war sie zu tief im Glauben verwurzelt. Der Herzausweider würde sich nicht an sie herantrauen.
Maria bewegte sich durch den großen Garten hinter van Bronckhorsts Haus. Sie wollte, so wie sie es früher getan hatte, leise an die Hintertür klopfen und dort um Einlass bitten. Stattdessen sah sie plötzlich die Tür aufgehen, und van Bronckhorst trat heraus, den Pelzhändler im Schlepptau. Marias Herz klopfte bis zum Hals. Welcher Art war die Heimlichtuerei der beiden? Sie verharrte im Schatten eines Baumes und beobachtete gespannt.
Die beiden Männer stiegen über die Seitenflanke des Kirchenhügels zur Schutzengelkirche hinauf. Maria, ebenfalls im Heimlichtun geübt, folgte ihnen ungesehen.
Mit wachsendem Erstaunen verfolgte sie, dass sich Stephen O'Brien in gebückter Haltung am Boden zu schaffen machte. Es sah aus, als ritze er irgendetwas in die Grasnarbe. Dies tat er an jeder Seite der Kirche. Als die beiden Männer auf der Rückseite zugange waren, trat sie an den Ort der Beschäftigung heran. Ein kalter Wind wehte über die grünen Hügel und ließ sie frösteln. Das Frösteln verstärkte sich noch, als sie ein seltsames magisches Zeichen in den Boden eingeritzt fand, das den Hieroglyphen der Lenape glich, die sie schon verschiedentlich gesehen hatte. Es strahlte Kraft aus. Und Macht. War Stephen O'Brien etwa ein Hexer?
Welch schicksalhafte Entdeckung!
Mit rasendem Herzschlag suchte sich Maria van Persie ein Versteck hinter einer Erderhebung viele Schritte von der Kirche entfernt. »Nein… nein«, stammelte sie plötzlich leise und faltete die zitternden Hände zum Gebet. Ein Zittern, das jetzt ihren ganzen Leib erfasste und kalte Schauer über ihren Rücken trieb. »Was geschieht hier? Gott der Allmächtige! Beschütze er mich mit allem, was er aufzubieten hat.«
Mit großen Augen starrte sie zum Dachfirst empor, auf dem die sechs gütigen Schutzengel thronten. Sie sah ihre weißen Körper in der Finsternis leuchten, sah ihre edlen, gütigen Züge, Engel des Herrn, so perfekt geschaffen, dass sie das Auge eines jeden Menschen erfreuten und deretwegen die Kirche bereits in kurzer Zeit weitum berühmt geworden war. Derartige Kunst wies kein anderes Gotteshaus in der Neuen Welt auf. Doch nun, von einem Moment auf den anderen, wandelte sich diese Schönheit in abgrundtiefste Hässlichkeit. Die weißen Körper wurden nachtschwarz, aus dem gütigen Antlitz eines jeden erwuchsen dämonische Fratzen, die überaus grausam und blutrünstig auf sie herabstarrten. Die perfekt geformten Flügel wandelten sich zudem in fledermausartige Schwingen, die die furchtbare Bedrohung um ein Weiteres verstärkten.
Welch furchtbaren Zaubers wurde sie hier ansichtig? Und warum bewegten sich plötzlich die Köpfe zweier dieser Monster in ihre Richtung?
Maria beschlich das unheimliche Gefühl, entdeckt worden zu sein.
Sie keuchte, sprang hoch und flüchtete den Berg hinunter. Als sie sich nach den Dämonischen umblickte, stolperte sie über einen Baumstumpf und schlug der Länge nach hin. Einen Moment blieb sie benommen liegen. Als sie sich stöhnend wieder aufrichten wollte, blickte sie an den Staturen von van Bronckhorst und O'Brien hoch, die vor ihr standen und vor dem hellen nächtlichen Himmel nicht weniger bedrohlich als die Dämonischen wirkten: Doch von ihnen drohte keinerlei Gefahr. O'Brien half der jungen Frau hoch. Beide Männer geleiteten sie fürsorglich zu van Bronckhorsts Haus zurück und boten ihr dort einen heißen Tee an. Sie schlürfte ihn dankbar in kleinen Schlucken.
»Was haben Sie gesehen?«, wollte der Pelzhändler wissen.
»Sie sind ein Hexer«, begehrte Maria van Persie auf.
Stephen O'Brien schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, falsch geraten, junge Frau, ein Hexer bin ich nicht. Ich bin vielmehr ein Streiter für das Gute in der Welt und halte unseren Herrn hoch. Als solcher habe ich bemerkt, dass mit der Schutzengelkirche, die dieser Preuße gebaut hat, etwas nicht in Ordnung ist. Mir war es vorbehalten, den Schleier der Täuschung, die über diesem teuflischen Bauwerk liegt, herunterzureißen und die furchtbare Wahrheit zu erkennen.«
Maria van Persie war alles andere als begriffsstutzig. »Die Schutzengel sind keine solchen, sie sind vielmehr Dämonen, nicht wahr?«
Stephen O'Brien nickte nur.
»Sind es jene, die unsere Herzen stehlen?«
»Es ist anzunehmen.«
»O guter Gott im Himmel. Was tun wir nun?«
»Dem Spuk ein Ende bereiten«,
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