0863 - Die Sirene von Atlantis
Gefühle zu Roya abkühlten. Als Schwester würde sie Roya ohnehin nie akzeptieren, das stand fest.
Alles ging rasend schnell.
Das Gewitter entlud sich. Die Welt sah plötzlich anders aus. Wie verschoben.
Blitze schossen aus den hohen Wolkenbergen. Am Himmel, über dem Wasser, aber auch über dem Land bewegten sich die Wolken wie unter mächtigen Faustschlägen. Sie wirbelten, sie wurden zerrissen, sie bildeten Gesichter mit weit aufgerissenen Mäulern, die schnell wieder zusammenklappten.
Der Donner übertönte alle anderen Laute. Er jagte als ein mächtiges Bollwerk in die Tiefe des Landes hinein. Sein Schall reichte bis zu den kahlen, in der Ferne liegenden Bergen, wo er an den steinigen Wänden abgeschmettert wurde.
Und dann kam der Regen.
Endlich!
Es war einfach zu lange trocken gewesen. Die Sonne hatte gnadenlos gebrannt. Zahlreiche Brunnen waren schon versiegt. Sie würden sich jetzt wieder mit Wasser füllen, wie auch die Kanäle, die ober- und unterirdisch liefen und in den Städten des Kontinents ein perfektes Bewässerungssystem bildeten.
Oft genug schafften sie es auch nicht, die Wassermassen aufzunehmen. Dann kam es zu Überschwemmungen, und manche Orte sahen aus, als würden sie inmitten eines Sees liegen.
Aus dem Himmel stürzte die Wasserflut. Hatten die beiden Mädchen noch kurz zuvor die Umgebung deutlich erkennen können, so tauchte nun alles ein in das graue Wasser, in den Nebel, in den Dunst, der sich vom Erdboden löste, weil das Wasser auf die heiße Fläche zischte.
Zum erstenmal seit langer Zeit brachte die Natur auch die entsprechende Kühle mit.
Kara stemmte sich gegen den kälteren Wind, der durch das Fenster fuhr und ihren Körper streichelte. Sie holte tief Luft. Ihre Augen glänzten, sie genoß diese Erfrischung, trat zurück, um Platz zu haben, denn sie breitete die Arme aus.
Auch Roya reagierte. Aber anders als Kara, eben für sie typisch.
Ihre Reaktion zeigte, wie unterschiedlich beide Frauen waren. Roya wollte mehr als nur den Wind, sie wollte auch das Wasser. Deshalb beugte sie sich so weit vor wie möglich, streckte die Arme den peitschenden Regenbändern entgegen, als wollte sie jeden einzelnen Tropfen auffangen. Binnen kürzester Zeit war sie durchnäßt, was ihr überhaupt nichts ausmachte. Sie lachte schallend in den Donner hinein.
Roya genoß die Abkühlung auf ihre Weise. Schon bald klebte ihr die Kleidung am Körper und zeichnete jede Kontur nach. Sie selbst zog sich auch zurück und strich genießerisch mit beiden Händen über ihre Brüste und den Leib hinweg. Ihre Augen glänzten wie Metall, als sie Kara anschaute. »Na, ist das nicht herrlich?« Der Regen peitschte ihr gegen den Rücken.
Kara nickte nur.
Auch ihr tat diese Abkühlung gut. Sie wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, so aus sich herauszugehen. Da war Roya eben ganz anders. Sie liebte sich selbst am meisten, und das zeigte sie auch immer wieder.
Plötzlich begann sie zu singen, übertönte das Rauschen des Regens.
Manchmal schrie sie, dann wieder sackte ihre Stimme ab und nahm einen klagenden Ton an.
Es war für sie wunderbar, aber Kara stand daneben und hörte einfach nur zu.
Sie wußte nicht, wie sie den Gesang ihrer »Schwester« einstufen sollte. Eines aber konnte sie mit Bestimmtheit behaupten. Er gefiel ihr nicht. Wenn er Gefühle ausdrücken sollte, dann überwogen die negativen, das hörte sie genau hervor.
Es hatte keinen Sinn, dies ihrer »Schwester« zu sagen. Sollte sie den Gesang genießen und auch den Tanz, den sie zu diesen sirenenhaften Klängen aufführte.
Kara wandte sich ab und trat an das zweite Fenster in der Nähe.
Von dieser Stelle aus beobachtete sie den Himmel und die Erde. In der Höhe entdeckte sie – noch über dem Meer schwebend – die ersten Auflockerungen. Dort war eine Lücke in das Grau der Wolken gerissen worden, so daß ein helles Blau durchschimmerte.
Das Gewitter zog ab.
Es hatte Erfrischung und Kühle gebracht. Außerdem war die Luft jetzt regenklar und sauberer. Man konnte wieder durchatmen.
Es regnete nicht mehr so stark. Nur noch in dünnen Fäden rann das Wasser aus den Wolken. Auf dem Erdboden hatten sich große Pfützen gebildet. Der Donner klang schwach und schwächer, und die Blitze waren nur mehr als fernes Leuchten zu erkennen. Es klarte weiter auf.
Kara lächelte. Sie war tief in ihre eigenen Gedanken versunken.
Natürlich freute auch sie sich über den Wetterumschwung, aber tiefer und nicht so laut und herrisch.
Kara schrak
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