0867 - Die Pesthexe von Wien
Nici, sei bitte so nett und geh zu Schwester Maria. Sie soll uns mitsamt dem Bett in einem Raum verstecken, wo wir noch ein paar Stunden ungestört sind.«
Da das Allgemeine Krankenhaus viel zu groß gebaut war und nur etwa sechzig Prozent der Räumlichkeiten Verwendung fanden, erwies sich das als absolut machbar. Zamorra verzichtete darauf, ein Laken über die Leiche zu ziehen. Das hatte allerdings nur bedingt damit zu tun, dass die magischen Zeichen nicht verschmiert werden durften. Der eigentliche Grund war ein ganz anderer.
Zu dritt schoben sie das Bett zum Aufzug. Als sie ihn einige Stockwerke tiefer verließen, gelangten sie in einen komplett leer stehenden Trakt.
»Freie Auswahl. Suchen Sie sich den schönsten Raum aus«, sagte Schwester Maria.
In einem kalten, sterilen, weißen Zimmer mussten sie weitere fünf Stunden ausharren.
»Merde«, fluchte Zamorra gegen zehn Uhr vormittags. Er stand auf und ging mit den Armen wedelnd im Zimmer hin und her. »Da friert man sich ja einen Ast ab. Hör zu, Nici, ich glaube nicht mehr, dass diese seltsame Katze uns tatsächlich hilft. Lass es uns so versuchen.«
Nicole schüttelte den Kopf. Sie erhob sich ebenfalls, legte das TI-Alpha, mit dem sie gespielt hatte, zur Seite und drückte sich fest an ihren Lebensgefährten. Sie küsste ihn. »Komm, ich wärme dich. Warten wir noch ein klein wenig. Ich bin sicher, dass Maneki Neko uns hilft. Ich habe es im Gefühl, dass sie's ehrlich meint. Ist einfach so. Wir sollten jetzt keine halben Sachen machen.«
»Na gut«. »Diesen Argumenten kann ich mich unmöglich verschließen.« Er schielte in Nicoles offenherzigen Ausschnitt.
»Nix da«, wehrte sie ab. »Wir sind auf Beobachtungsposten.«
»Wem sagst du das…«
Drei Minuten später war es so weit. Das Zentrum des Amuletts erhellte sich plötzlich. Maneki Nekos Katzengesicht erschien. Und eine Pfote, die ihnen zuwinkte. Im selben Moment spürte Nicole, wie sich ihr Geist mit dem der Maneki Neko kurzschloss. Die winkende Katze übermittelte ihr, was sie im Pestkelch gesehen hatte.
Zamorra nickte derweil.
Und schloss das letzte, unvollendete magische Zeichen.
Im selben Moment schien Merlins Stern zu explodieren.
***
Die Hexe Theresia Maria von Waldstein stand nackt auf dem Dach der Wiener Staatsoper und blickte über die nächtliche Innenstadt hinweg. Tief befriedigt nickte sie. Überall lagen Leichen in den Straßen, vereinzelt irrten Menschen umher, schrien, wimmerten, suchten nach Angehörigen. Irgendwo über ihr kreisten Kampfhubschrauber des Bundesheeres, weit in der Ferne ertönten Schüsse. Ein Hund kläffte wie irre. Die, die noch lebten, befanden sich entweder in ihren Häusern oder versuchten verzweifelt, die Stadt zu verlassen. Für sie selbst gab es hier also nicht mehr viel zu tun.
»Sei mir nicht böse, aber ich werde dich verlassen, mein schönes, wunderbares Wien«, murmelte sie vor sich hin und verfolgte den Flug einiger Raben, die Jagd auf die Verirrten in den Straßen machten. »Bald schon. Ich brauche ein neues, gut bestücktes Feld, auf dem ich meine verderbliche Saat ausbringen kann. Und ich weiß auch schon, wo.«
Obwohl sie als Auslöser dieser Katastrophe längst mit dem berechtigten Anspruch, endlich zur Dämonin erhoben zu werden, vor den Rat der Erzdämonen hätte treten können, stellte sie dieses Ziel zurück. Zuerst wollte sie das ganze Land mit der Pest überziehen, dann ganz Europa und schließlich die ganze Welt. Die Hexe glaubte, aus eigenem, freiem Antrieb zu handeln, aber das tat sie längst nicht mehr. Auch von ihr hatte die beeinflussende Kraft des Kelchs längst Besitz ergriffen.
Theresia Maria von Waldstein liebte es, durch die tote Stadt zu gehen und ihr Werk zu betrachten. So stieg sie vom Dach der Staatsoper herunter und wandelte langsam Richtung Süden. Der Vorort Vösendorf war ihr Ziel. Dort befand sich die »Shopping City Süd«, mit 270 000 Quadratmetern Grundfläche eines der größten Einkaufszentren Europas. Dementsprechend stellte die SCS mit ihren zehntausenden von Menschen, die dort täglich einkauften, ein äußerst lohnendes neues Ziel für sie dar. Zumal Vösendorf außerhalb des militärischen Einschließungsrings lag. Der verlief nämlich ein wenig nördlich des Vororts, ungefähr beim Knoten Wien-Inzersdorf über die Südautobahn hinweg.
Ein neuer, furchtbarer Tag dämmerte herauf. Es war empfindlich kühl, als die Hexe auf einen mit Panzern und Maschinengewehren bestückten Militärposten zuging.
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