0867 - Emily
Weise schon. Das kann man sagen.«
»Wie meinen Sie das, Doktor?«
»Ich würde es als einseitig ansehen.«
»Mathematisch oder…«
»Nein.« Prudomme lachte. »Auf keinen Fall. Sie ist eher künstlerisch begabt. Sie malt gut.«
Malen! Ich wußte nicht, weshalb ich so elektrisiert reagierte. Ein Mädchen, das malt. Das hörte man öfter, daß psychisch Kranke anfingen zu malen, was auch eine Therapie sein konnte. Malen heilt oft, malen tut der Seele gut, und ich hörte auch, wie Prudomme davon sprach, daß es kein Fehler wäre.
Dennoch war ich nicht eben glücklich, und ich konnte auch nicht sagen, weshalb.
»Was malt sie denn?« erkundigte sich Suko.
»Menschen zumeist.«
»Sie haben Bilder gesehen.«
»Natürlich.«
»Können Sie uns eines davon zeigen? Hat Emily ihnen ein Bild überlassen?«
Prudomme nickte. Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo er eine breite Lade öffnete, hineingriff, aber den Inhalt noch nicht hervorholte. »Sie hat mir ein Bild geschenkt, das ihren Freund darstellen soll. Ich hatte sie darauf angesprochen, daß sie doch sehr allein ist, das aber hat sie vehement abgestritten und mir erklärt, daß sie ihr Freund des öfteren besuchen kommt. Wenn sie dieses Bild sehen, werden Sie die Köpfe schütteln. So kann kein Freund aussehen, zumindest keiner, der lebt und existiert, denn er ist mehr so etwas wie eine Comicfigur, das Traumbild eines Menschen.«
Endlich holte er das Blatt hervor. Es war ziemlich groß, hatte etwa die doppelte Größe eines Zeichenblatts.
Er kam auf uns zu.
Noch konnten wir nicht viel erkennen. Jedenfalls war die Gestalt bunt gemalt worden. Sehr geschwungen, in der Bewegung, und mit einem Schwung holte der Doktor auch aus, bevor sich das Blatt auf den zwischen uns stehenden Tisch senkte. Er drückte noch mit den Handflächen dagegen und nickte uns zu. »Das ist er, der Freund.«
Von verschiedenen Seiten schauten wir auf die Zeichnung.
Zumindest Suko und ich wurden blaß.
Wir sahen den Mann, der so futuristisch wirkte, wir sahen seine Flügel, wir sahen seinen seltsamen Gürtel, den ungewöhnlichen Aufzug, auch den Helm mit dem Sichtvisier, und wir wußten Bescheid.
Das war er.
Das war Barry F. Bracht alias Zebulon, der Schattenkrieger!
***
Da wir stumm blieben, aber uns trotzdem durch einige unbewußte Reaktionen wohl verraten hatten, die dem Arzt auch aufgefallen waren, überwand er sich schließlich und sprach uns an. »Was ist los? Was haben Sie? Hat die Zeichnung Sie dermaßen beeindruckt?«
Das hatte sie in der Tat, doch wir wollten dies nicht zugeben. Suko und ich verständigten uns mit einem raschen Blick, und wir rissen uns beide zusammen.
»Das ist also Emilys Freund«, stellte ich fest.
»Ja.«
»Hat er denn auch einen Namen?«
Der Arzt lachte. »Einen sehr seltenen sogar, was gleichzeitig für die Patientin und deren Phantasie spricht. Sie hat ihn. Zebulon genannt. Ein biblischer Name, ein recht ungewöhnlicher. Aber was ist bei Emily schon normal?«
Wenn wir bisher noch Zweifel daran gehabt hatten, nun waren sie ausgeräumt worden. Diese gemalte Figur war Zebulon, der uns schon so manches Mal geholfen hatte.
Aber was hatte er mit dieser jungen Doppelmörderin zu tun? In welch einer Beziehung standen die beiden zueinander? Sie hatte ihn in seiner zweiten Gestalt gezeichnet. Wußte sie eigentlich, daß es noch eine erste Gestalt von ihm gab? Daß er tatsächlich Barry F. Bracht hieß und als Lektor in einem Londoner Verlag arbeitete?
Es war uns nicht bekannt. Es spielte auch keine Rolle. Es zählte allein die Tatsache, daß beide sich kannten. Zebulon und die Doppelmörderin. Meine Güte, welch ein Verhältnis. Wie kam sie dazu, ausgerechnet den Schattenkrieger als ihren besten Freund anzusehen? Eine Traumfigur. Sie mußte einfach mit ihm kommuniziert haben, und ich fragte mich natürlich, wie sie ihn kennengelernt hatte? Wie war die Verbindung zustande gekommen? Hatte auch Emily eine Doppelexistenz?
Das war möglich.
Ich dachte an ihre Bluttat. Vielleicht war es gar nicht die echte Emily gewesen, die ihre Eltern umgebracht hatte, sondern nur ihre zweite Existenz?
Es wurde immer komplizierter, und ich bekam die Knoten aus meinen Gedankengängen nicht heraus. Da war einiges verkehrt gelaufen und nicht richtig einzuordnen.
Natürlich betrachtete der Arzt die Zeichnung mit anderen Augen als wir. Er kannte Bracht nicht, er wußte nichts von Zebulon. Für ihn war sie eine Phantasie-Figur, eine Gestalt aus einem Comic, den
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