0867 - Emily
Bleistift. Alles andere in ihrer Umgebung zählte nicht für sie. Auch die Schere ließ sie an ihrem Bein kleben. Sie brauchte sie nicht, noch nicht…
Emily winkelte die Beine an, damit die Oberschenkel eine Schräge bildeten, auf die sie auch ihren Block legen konnte. Es war die bequemste Haltung, die sie erreichen konnte, auch deshalb, weil die Wand ihr im Rücken Halt gab.
Sie wollte wieder zeichnen und suchte in dem Korb nach Stiften. Sie hatte einige eingepackt, für sie allerdings waren nur die dunklen Farben wichtig.
Schwarz, grau und braun.
Am liebsten aber schwarz.
Das war die Farbe, die ihr am besten gefiel. Sie zeichnete sich immer sehr deutlich vom hellen Hintergrund ab. Da sah sie jede Kontur, jeden feinen Strich.
Emily malte. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Arbeit. Alles andere, was noch vor kurzem gewesen war, strich sie aus ihrem Gedächtnis. Jetzt war ihre Arbeit wichtig, und diese Arbeit sollte einen Höhepunkt in ihrem bisherigen Leben darstellen.
Emily hatte sich dazu entschlossen, einen Weg einzuschlagen, der einmalig war.
Mit diesem Bewußtsein fing sie an zu malen…
***
Erst als Shao einige Male tief durchgeatmet hatte, gab Suko ihr die Unterstützung, damit sie sich aus der unbequem liegenden Haltung aufrichten konnte.
Shao setzte sieh hin.
Suko stellte zunächst keine Fragen. Seine Partnerin mußte mit sich selbst zurechtkommen, aber er blieb in ihrer unmittelbaren Nähe sitzen und sorgte auch für einen beruhigenden Körperkontakt.
Shao hatte die Hände gegen ihr Gesicht geschlagen. Sie atmete in den Hohlraum hinein, und es entstand ein zischendes Geräusch. Den Oberkörper hatte sie nach vorn gebeugt, so daß ihr langes Haar nach vorn schwang und die Hände vor dem Gesicht »versteckte«.
Beide hockten noch auf der Bank. Wie es John Sinclair ergangen war, wußte Suko nicht. Er hatte weder etwas von ihm gehört noch gesehen. Der Garten hatte ihn verschluckt. Suko hoffte nur, daß alles gut über die Bühne gegangen war und John einen Erfolg erzielen konnte.
Shaos Verhalten ließ im Prinzip darauf schließen. Sie war dabei, sich wieder zu erholen. Sie atmete zwar noch keuchend, aber es ging ihr von Sekunde zu Sekunde besser. Als sie sich aufrichtete und auf die Oberschenkel klatschte, da wußte Suko, daß sie wieder einigermaßen okay war.
»Shao…«
Sie drehte ihm das Gesicht zu und schaffte ein Lächeln. »Frag nicht, wie es mir geht.«
»Das hatte ich nicht vor.«
»Ich werde es dir trotzdem sagen.« Sie legte ihre Hand auf Sukos. »Es ist so, als wäre ich wieder neu erstanden. Ich habe alles vergessen, was geschehen ist…« Sie lachte dabei, schüttelte den Kopf und hob die Schultern. »Kannst du dir das vorstellen?«
»Kaum, Shao. Aber mich würde interessieren, an was du dich noch erinnern kannst.«
»Tja, das ist schwer.«
»Kannst du es denn?«
»Sicher. Ich mußte weg aus dem Zimmer. Wir sind dann in den Park hier gegangen, wir haben uns auf die Bank gesetzt, und durch meinen Kopf schwirrte immer wieder das Bild des Mädchens. Es ist wie ein Stigma, ein gefährliches Etwas. Ich komme damit nicht zurecht, aber ich muß dir sagen, daß ich darunter leide.«
»Wir saßen also auf der Bank…«
»Sicher.«
»Was geschah dann mit dir? Hast du daran noch eine Erinnerung?«
Shao schluckte zuerst. Dann räusperte sie sich. »Das ist natürlich schwer«, murmelte sie, »aber ich weiß ungefähr, was geschehen ist.« Sie suchte nach den passenden Worten. Als sie diese gefunden und auch ausgesprochen hatte, überraschte sie Suko trotzdem damit. »Etwas leerte sich aus mir selbst heraus. Kannst du das begreifen? Es drang einfach aus meinem Innern hervor.«
»Es fällt mir schwer - ehrlich gesagt.«
»Ja, das glaube ich dir. Mir ergeht es ja nicht anders. Für mich war es grauenvoll. Als hätte mir jemand in den Magen geschlagen und seine Faust vorerst nicht herausgezogen. Dieses andere Gefühl blieb in mir, es war so unwahrscheinlich stark. Ich habe es nicht geschafft, dagegen anzukommen, aber…«
»Du warst völlig weggetreten«, sagte Suko.
Shao nickte nur. »Das habe ich mir gedacht. Ich kann nichts dafür. Wer immer mich auch in seinen Klauen gehalten hat, dieser Jemand ist verdammt stark.«
»Wie ist es dir denn jetzt?«
»Ich bin einigermaßen okay und komme zurecht. Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.« Sie räusperte sich und streckte die Beine aus. »Es tut gut, sich bewegen zu können.«
»Dein Körper war starr«, sagte Suko.
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