0867 - Emily
den Jüngsten zählte er auch nicht mehr. Das Haar war grau, schütter, und der Kopf sah aus wie ein übergroßer Apfel, der zu lange auf dem Boden gelegen und deshalb seine Glätte verloren hatte. Er stöhnte zweimal. »Hier ist es angenehm, wunderbar kühl. Draußen erstickt man. Viele sind auch schon aus der Stadt geflohen, haben recht daran getan.«
»Und Sie halten die Stellung, nicht?«
»Nein, auch nicht.«
Ich begriff ihn nicht so recht. »Soll das heißen, daß Sie Ihren Urlaub unterbrochen haben?«
Daladur schüttelte den Kopf. Ich erhielt noch keine Antwort. Zuvor holte er eine schon fertig gestopfte Pfeife aus der Jackentasche, riß ein Streichholz an und hielt es gegen den Tabak. Er nebelte uns ein, dann streckte er die Beine aus. »Ich habe auch nicht meinen Urlaub unterbrochen, man hat mich einfach zurückgeholt. Ich bin eigentlich seit zwei Wochen pensioniert, aber es gibt Kollegen, die mich trotzdem noch gern sehen.« Er kicherte, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Kann ich auch nicht begreifen. Es ist nun mal so, und Sie müssen sich damit abfinden.«
»Wie schön«, sagte ich.
»Ob es schön wird, werden wir sehen.« Er schaute sich um. »Ich habe gehört, daß Sie zu dritt sind. Aber sie sitzen hier allein. Wo stecken die anderen beiden? Oder hat man mich falsch informiert?«
»Nein, nein, das hat man wohl nicht. Sie sind hier schon richtig.« Ich deutete auf das kalte Büfett, wo sich Shao und Suko soeben lösten und mit gefüllten Tellern zurückkamen.
»Die beiden?« staunte der Inspektor.
»Ja.«
»Nun ja, wie Sie wollen.«
Er war höflich und erhob sich, als Shao an den Tisch kam. Sie und Suko stellten ihre Teller ab und erfuhren, bei wem es sich um den Mann im braunen Anzug handelte.
»So, dann sind wir ja komplett. Jetzt brauche ich nur noch etwas zu trinken.« Daladur winkte einem Kellner und gab die Bestellung auf. Kaffee und Wasser.
Suko und Shao aßen ihre Salate. Eine Mischung aus Grünzeug mit Shrimps, Lachs und einer hellen Soße. Erst als Daladur einen Schluck Kaffee getrunken hatte, kamen wir allmählich zur Sache, und er begann.
»Halten wir mal fest, daß es mit drei Morden begonnen hat. Soviel weiß ich.«
Ich schickte Suko einen Blick zu. Mein Freund verstand, unterbrach sein Essen und gab einen ersten Bericht, dem Daladur aufmerksam zuhörte. Später, als sich auch Shao und ich in das Gespräch mit einmischten, zog er schon ein ungläubiges Gesicht, denn er konnte die Tatsachen kaum glauben, die wir auf dem Friedhof erlebt hatten. Wir schilderten ihm Absaloms Tod, und der schüttelte einige Male den Kopf. Schließlich wollte er wissen, ob wir das nicht alles geträumt hatten.
»Nein, haben wir nicht.«
Er schaute uns an. Prüfend, nachdenklich. Dann lachte er leise. »Ich bin es gewöhnt, die Katze nicht im Sack zu kaufen. Deshalb habe ich mich auch zuvor erkundigt, mit wem ich es zu tun bekomme. Gehen Sie deshalb davon aus, daß ich über Sie, über Ihre Arbeit und auch über Fälle informiert bin, die Sie hier in Paris gelöst haben. Deshalb darf ich Sie eigentlich nicht als Spinner einstufen.«
»Darum möchten wir auch gebeten haben«, sagte Shao.
»Pardon, Madame, aber mir sind schon die wunderlichsten Typen über den Weg gelaufen in meiner doch recht langen Polizei-Karriere. Mich kann so leicht nichts mehr erschüttern. Deshalb hat man mich wohl für Sie zurückgeholt. Aber diese Sache hier…«, er schüttelte den Kopf und saugte heftig an seiner Pfeife, »haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Nein.«
»Schön.« Er grinste. »Sie haben die Suppe demnach angerührt, und nun sollen wir Ihnen dabei helfen, sie auszulöffeln. Kann man das so sehen?«
»Auch nicht.«
»Dann klären Sie mich auf.«
Das tat Suko, nachdem er ein paar Shrimps zerbissen hatte. »Wir haben da eine Information erhalten, und es könnte sein, daß Sie uns da tatsächlich weiterhelfen könn…«
»Welche denn?«
Suko lächelte. »Das ist ganz einfach. Dieser Absalom wiederholte vor seinem Ableben einige Male den Namen Emily.«
Daladur trank Kaffee und Wasser. Er ließ sich nichts anmerken, ob er überrascht war oder nicht. Er runzelte die Stirn. Dann wiederholte er den Namen.
»Sagt er Ihnen etwas?« fragte ich.
»Im Moment nicht. Hört sich nicht eben sehr französisch an. Doch auf der anderen Seite«, er hob die Schultern, »Europa wächst immer mehr zusammen. Die Grenzen zerfließen, und viele Menschen bestehen nicht mehr darauf, daß ihre Kinder unbedingt Namen
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