0868 - Die Toten-Krypta
hielt.
»Aber er, nicht wahr?« fragte ich.
»Ja«, erwiderte sie, wobei Erleichterung aus diesem Wort mitklang. »Er ist würdig. Und er wird euch zur Hölle schicken, wenn er sieht, was ihr mir angetan habt.«
»Du irrst dich, wir haben dir nichts angetan. Wir haben dir nur helfen wollen.«
»Das stimmt nicht. Ihr…«
»Nur helfen«, wiederholte ich. »Auch Zebulon wird dir helfen. Oder ist er es, der wie ein böser Geist in dein Innerstes gedrungen ist, um dich für seine Zwecke einzuspannen?«
»Was meinst du?«
»Emily«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Du weißt selbst, wozu du fähig bist. Hat dein Freund dafür gesorgt?«
Emily drehte sich von mir weg, als hätte ich sie unsittlich berührt. »Wieso das…?«
»Jemand muß es dir gezeigt haben.«
Sie schaute auf den Malblock. Ich wußte damit, daß sie meine Fragen begriffen hatte. »Ich kann es eben«, sagte sie leise. »Es ist einfach da, und es ist wundervoll. Ich kann es, das ist außergewöhnlich. Ich bin gut, ich bin so gut. Ich bin… ich bin…« Ihre Stimme versagte. »Ich werde euch alle zeichnen«, sprach sie nach einer Weile weiter. »Ja, ich werde euch alle zeichnen und dann töten. Ich muß es einfach tun. Ihr habt mir alles genommen.« Sie griff, bevor Suko oder ich noch eingreifen konnten, nach einem schwarzen Stift und wollte mit ihrer Arbeit beginnen.
Diesmal aber packte ich ihren Arm und drehte ihn auf den Rücken. Tränen traten in Emilys Augen, als sie den Schmerz spürte. Endlich ließ sie den Bleistift fallen.
»Nicht mehr«, sagte ich. »Das Sterben soll ein Ende haben. Es ist genug Blut geflossen.«
Das Mädchen reagierte nicht. Ich hatte erwartet, daß es sich aufbäumen würde, aber plötzlich war ihr alles egal. Beinahe körperlich war für mich spürbar, daß sie mit uns nichts mehr zu tun haben wollte. Sie hatte sich in sich selbst verkrochen, wobei das allerdings nicht alles war, denn sie stand plötzlich auf.
Dies geschah mit einer normalen Bewegung, so daß kein Mißtrauen in uns aufkeimte. Vor dem Schreibtisch blieb sie stehen, den Blick gegen das Fenster gerichtet, hinter dessen Scheibe sich Schatten unterschiedlichster Art und Größe abzeichneten. Oft dunkler als die Dämmerung. Ihre Hände hatte sie ausgestreckt und stützte sie auf die Platte. Dann lächelte sie. »Gleich«, drang es flüsternd aus ihrem Mund, »gleich ist es soweit. Gleich ist er hier. Ich spüre ihn, er ist bereits nah, sehr nahe sogar. Ich… ich kann ihn fast greifen.«
»Und weiter!« forderte ich sie auf.
»Ich freue mich auf ihn.«
»John, sie hat recht«, meldete sich Shao. »Auch ich kann ihn spüren. Er ist nicht mehr weit…«
Ich wußte, von wem die Rede war. Und ich wußte ferner, daß Zebulon, der Schattenkrieger, ein Wesen war, für das bestimmte Gesetze nicht galten. Er konnte sich bewegen, wie er wollte. Ihn würde kein Fenster und auch keine Mauer aufhalten können.
Hinter der Scheibe entdeckte ich eine Bewegung. Dort zuckte etwas hin und her, als wäre dunkles Papier im Wind geschwenkt worden. Für einen Moment sah es aus, als befände sich die Scheibe in einem Schmelzvorgang, der sie wie eine große Blase nach vorn drückte.
Die Bewegung blieb, sie bekam Formen, Konturen, und plötzlich stand eine unwahrscheinliche Gestalt im Raum.
»Zebulon!« schrie das Mädchen, startete wie eine Rennläuferin und warf sich in seine Arme…
***
Ja, es war unser Freund Barry F. Bracht in seiner zweiten Gestalt. Wir kannten seinen Anzug, wir kannten seinen Helm, wir kannten auch seine Flügel, die von den Schulterblättern an in die Höhe wuchsen. Wir kannten auch seinen Helm mit dem Sichtvisier, das er noch nach unten geklappt hatte, und wir kannten die geheimnisvollen Knöpfe auf seinem breiten Gürtel in der Körpermitte.
Er war nicht mehr feinstofflich. Als ein solcher hatte er die Scheibe durchdrungen, sich aber sofort gewandelt und hatte feste Konturen bekommen, denn nur so war es dem Mädchen möglich gewesen, sich in seine Arme zu werfen und auch von ihm gehalten zu werden.
Sie hielt ihre zu kurzen Arme um den Körper des anderen geschlungen, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Immer wieder flüsterte sie seinen Namen, und ihre Worte hörten sich an wie ein Gebet.
»Nie mehr will ich dich loslassen, nie mehr. Du bist mein Freund, der einzige, den ich habe. Wir haben uns in unseren Träumen getroffen, und wir werden uns immer wieder sehen. Ich wußte genau, daß du mich nicht im Stich lassen würdest. Du bist mein
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