0868 - Die Toten-Krypta
auf dem Schreibtisch landete.
Es war vorbei.
Es gab ihr »Kind« nicht mehr. Sie hatte es erschaffen, und sie hatte es zerstört. Ja, sie hatte das Recht dazu gehabt. Nur sie allein, kein anderer, nur sie.
Tief holte sie Luft, und das war auch zu hören. Ein saugendes, leicht pfeifendes Geräusch. Schmerzen in ihrem Kopf. Schweiß, der auf dem Körper klebte. Blut, das zu kochen schien.
Heftig bewegte Emily ihre Beine. Mit den Füßen schabte sie über den Teppichboden. Dann fiel ihr Oberkörper nach vorn. Der Kopf machte die Bewegung mit.
Er sank so weit nach unten, daß Emily mit der Stirn gegen die Schreibtischplatte fiel. Sie blieb in dieser Haltung wie ein gekrümmter Bogen sitzen.
Ausgelaugt und fertigt…
So fanden wir sie auch vor.
***
Ich hatte das Zimmer der Emily Craton zuerst betreten. Shao war dies sehr recht. Sie wollte sowieso nicht mitkommen und lieber im Flur draußen warten. Sie hatte diesen anderen Ansturm erlebt und grübelte noch immer darüber nach, was sie letztendlich so stark geschwächt hatte. Dabei wußte sie, daß es mit Emily zusammenhing, aber sie war nicht in der Lage, den Grund zu finden.
Um nicht noch einmal in die Gefahr hineinzugleiten, blieb sie sicherheitshalber außen vor.
Suko wollte bei ihr bleiben, aber Shao schickte ihn mir nach, und er drängte sich neben mich. Beide standen wir auf der Schwelle und schauten in den Raum.
Es roch nach Schweiß. Es war warm. Hinter dem Fenster glühte der Himmel in den Farben der untergehenden Sonne. Ansonsten hüllten bereits die Schatten des späten Abends das Haus ein. Eine Nacht stand uns bevor, eine lange Nacht.
Keiner wußte, wie sie enden würde, aber ich hatte das Gefühl, in den folgenden Stunden eine Lösung präsentiert zu bekommen.
Die Patientin saß am Schreibtisch. Den Oberkörper nach vorn gedrückt, die Stirn gegen die Platte gepreßt, umgeben von zahlreichen Papierschnipseln.
Sie hatte uns nicht gesehen, atmete nur heftig. Die Arme hatte sie lang gemacht und über die Platte des Schreibtisches geschoben. Die Finger der rechten Hand hielten noch die Schere.
Sie stöhnte zwischendurch. Erinnerungen mußten sie überfallen haben, einen anderen Grund für ihr Stöhnen gab es wohl nicht.
Auch Shao schaute kurz in das Zimmer. Sie sah Emily ebenfalls und runzelte die Stirn. Wahrscheinlich überlegte sie noch, ob sie den Raum betreten sollte.
Suko und ich hatten uns verteilt. Während ich in der Nähe des Schreibtischs stand, hielt sich Suko mehr an der Tür auf, bereit zu verschwinden und Shao zu unterstützen.
Mir war nicht klar, ob uns das Mädchen gesehen hatte oder nicht. Wahrscheinlich waren wir bemerkt worden, wobei Emily mehr mit sich selbst zu tun hatte, als sich um ihre Umgebung zu kümmern. Sie blieb in ihrer Haltung hocken und nahm nichts zur Kenntnis, was um sie herum vorging.
Sie wollte es einfach nicht.
Ihr gegenüber blieb ich stehen. Die beiden Spitzen der Scherenhälften wiesen auf mich, als wollten sie mich aufspießen. Manchmal zuckten auch ihre Hände, dann rutschte bei einer die Schere über den Schreibtisch hinweg. Vor und wieder zurück, dann begann das gleiche noch einmal.
Ich schaute auf ihren Kopf.
Das Haar klebte zusammen. Sie mußte fürchterlich unter Streß gestanden und geschwitzt haben. Ich brauchte nur die Papierreste zu sehen, um zu wissen, was hier abgelaufen war. Den Erfolg dessen hatte ich schließlich im Flur und in der Nähe des Arztbüros mitbekommen.
Sie hatte ihr »Kind« getötet. Mit einer Schere. Und auf diese Weise hatte sie auch damals ihre Eltern umgebracht. Nur war es da eine andere Waffe gewesen.
War sie eine Mörderin?
Bei ihren Eltern schon, und der Fluch der bösen Tat hatte sich auch durch ihr weiteres Leben gezogen. Aber konnte ich Emily deswegen verurteilen? Wahrscheinlich war sie es nicht wirklich, die ihr »Kind« getötet hatte. Nein, es war jemand in ihr, was immer es auch sein mochte. Ein Geist, ein Etwas, eine Bedrohung, die für Emily leicht zu einer tödlichen Umklammerung werden konnte.
Dieses Etwas, dieses andere hatte sie in den Zerstörungswahn getrieben. Emily hatte nicht anders handeln können. Es war nicht sie selbst gewesen.
Ich oder wir mußten mit ihr reden.
Als Suko das Zimmer betrat - Shao blieb sicherheitshalber noch immer draußen -, sprach ich Emily an. Ich rief ihren Namen mit leiser Stimme. Sie reagierte überhaupt nicht.
Ich versuchte es zum zweitenmal. Diesmal schüttelte sie nur den Kopf.
»Bitte, Emily, es hat doch
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