0882 - Der Sonnen-Dämon
wollte so vieles tun, er schaffte nichts, denn der Druck war einfach zu stark. In seiner Stirn spürte er die Hitze, vielleicht zeichnete sich dort schon sein drittes Auge ab, das war jetzt alles zweitrangig geworden. Er war ein Mann, der auf einem verdammt dünnen Drahtseil stand.
Würde der Junge gehorchen?
Diese Frage beschäftigte Laroche so stark, daß er sie nicht mehr für sich behalten konnte und Kinok direkt fragte: »Willst du es tun? Willst du mich töten…«
Er hatte keine rasche Antwort erwartet, daß es allerdings so lange dauerte, bis Kinok endlich sprach, machte ihn schon nervös, und auch dann wußte er nichts Genaues. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nicht, wie stark mein Vater ist und ob ich gegen seine Macht ankomme.«
Laroche überlegte scharfsinnig und schnell. »Das heißt, du würdest es von dir aus nicht tun?«
»Richtig.«
»Aber du fürchtest dich davor, daß man dich dazu zwingen könnte. Oder liege ich da falsch?«
»Nein.«
Laroche stöhnte diesmal lauter und auch hörbar. »Meine Güte, was soll ich jetzt tun?«
»Nichts«, sagte der Junge. »Du kannst einfach nichts tun. Es ist allein eine Sache zwischen mir und meinem Vater. Wären wir beide ›normale‹ Menschen, so würde ich von einem Generationskonflikt sprechen, aber das ist es wohl nicht. Es wird ein Kampf werden, und ich hoffe, ihn gewinnen zu können.«
»Wie willst du das tun?«
»Ich muß stark sein.«
»Stärker als er?«
»Ja, viel stärker. Er hat die Macht der bösen Sonne. Er kann Menschen wahnsinnig beeinflussen und sie sogar in den Tod treiben. Du kennst ihn nicht. Ich habe geglaubt, ihm entfliehen zu können, doch schon auf dem Flughafen habe ich seine Nähe gespürt. Er ist eigentlich immer da gewesen, er läßt mich nicht aus den Augen.«
Als wäre der letzte Satz ein Stichwort für den Grauhaarigen gewesen, so drehte der sich allmählich zum Mittelgang hin um. Er tat es langsam und bedächtig.
Obwohl Laroche nicht hinschaute, bekam er diese Bewegung aus dem linken Augenwinkel mit. Und plötzlich war in ihm der Zwang, sich ebenfalls umzudrehen.
Nicht zu Kinok hin, sondern zu Sorath!
Die Mumie schaute ihn an.
Er starrte gegen die Mumie!
Und wieder huschten die Bilder aus der Vergangenheit in ihm hoch, so daß er nicht umhinkam, einen Vergleich zwischen den beiden Gestalten anzustellen.
Waren sie identisch?
Nein, nicht vom Aussehen her. Damals war das Gesicht der Gestalt durch Tücher so verdeckt worden, daß nicht einmal ein handbreiter Streifen freigelassen worden war.
In diesem Fall aber schaute er in das gesamte Gesicht dieser fürchterlichen Gestalt.
Wie war es? Sah so das Gesicht eines Dämons aus, einer widerlichen Mumie, die schon einige Jahrtausende alt war? Nein, das… das… war nicht der Fall. Hier schaute ihn jemand an, der durchaus menschlich aussah, auch wenn die Hautfarbe einen ungesunden Farbton zeigte. Sie schimmerte blaß, bräunlich und gelb, wie bei einem Menschen, der unter einer schweren Hepatitis litt.
Hinzu kam die Flachheit des Gesichts. Obwohl sich die Nase, der Mund und auch die Augen davon abhoben, konnten diese Merkmale die flache Form nicht unterdrücken. Hinzu kamen die weit auseinander stehenden Augen, die dichten Brauen und die hohe Stirn. Graue Haare, zurückgekämmt.
Grau wie Asche waren auch die Hände, über deren Knochen sich die Haut spannte.
Ein böser, furchtbarer Blick und ein breiter Mund mit schmalen Lippen.
Eis - ja, Eis lag zwischen ihnen. Es hatte sich als eine unsichtbare Wand aufgebaut. Es war nicht zu sehen, nur zu ahnen, und die Kälte kam Laroche tödlich vor.
Er spürte unter seinem Gesäß den Sitz, und er wäre am liebsten hineingekrochen.
»Nein, Vater, nein…«
Die Worte des Jungen flossen an Laroche vorbei. Sie waren nur so laut gesprochen worden, daß sie nur von Sorath gehört werden konnten.
Der lächelte breiter.
»Ich tue es nicht, Vater…«
Sorath öffnete den Mund spaltbreit. Wirklich nur ein winziges Stück, und Laroche konnte in diesen Spalt hineinschauen. Er hatte den Eindruck, dahinter etwas Helles zu sehen, als wäre in der Mundhohle eine Lampe eingeschaltet worden, was sicherlich nicht der Fall war. Laroche erinnerte sich daran, daß Sorath auch der Sonnen-Dämon genannt wurde. Konnte es sein, daß sein Körper auch mit dem Licht einer bösen Sonne gefüllt war?
»Du bist mein Sohn, Kinok. Du bist der Sohn des Sonnen-Dämons. Ich habe viel auf dich übertragen. Ich habe dich aus deiner Totenkammer
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