0891 - Knochenklaue
in die Küche.«
»Lassen Sie sich Zeit.«
Ich nahm in einem braunen Ledersessel Platz. Mein Blick fiel auf eine rustikale Stollenwand, in der auch ein Fernseher stand. In den anderen Fächern verteilten sich einige Bücher, Vasen und Schalen.
»Was wollen Sie denn über Ann Cordy wissen?« rief mir die Frau aus der Küche zu.
»Wie sie so ist.«
»Eine junge Frau, die verzweifelt versucht, einen anderen Arbeitsplatz zu bekommen, aber es ist schwer, als Näherin einen Job zu finden. Die Textilindustrie hat der Konkurrenz aus Fernost Tribut zollen müssen.«
»Leider.«
»Ja.«
»Sie hat nie mit Ihnen über Geister oder übersinnliche Phänomene gesprochen?«
»Nein, John. Wir haben uns zwar oft unterhalten, auch über private Dinge, aber das war tabu. Für mich ebenfalls, bis ich auf dem Friedhof attackiert wurde.« Sie wurde wieder sichtbar und blieb im offenen Durchgang stehen. »Ich habe mich bisher nie damit beschäftigt, dieses Gebiet war mir immer suspekt, wie Sie sich bestimmt vorstellen können, und auch jetzt weiß ich keine Erklärung. Ich weiß nur, daß es etwas gibt, mit dem Ann und ich zu tun haben.«
»Das scheint mir auch so zu sein. Haben Sie denn über einen eventuellen Grund nachgedacht?«
»Ich habe es versucht.« Sie hob die Schultern. »Sie werden jedoch verstehen, daß ich zu stark unter diesem anderen Einfluß stehe, als daß ich zu einem Ergebnis gekommen wäre. Ich weiß eigentlich überhaupt nichts, John.«
»Und doch muß es einen Grund, muß es ein Motiv geben. Auch im Bereich des Übersinnlichen existiert dies. Das müssen Sie mir glauben, Donata, ich habe da meine Erfahrungen sammeln können.«
Mrs. McBain dachte nach, nickte auch und hob dann ihre Schultern. »Ich sehe keinen. Sie denn?«
»Möglich.«
»Da bin ich gespannt.«
»Sie haben mir davon berichtet, daß Ihr Mann und Ihre Tochter gestorben sind. Ihretwegen waren Sie ja auch auf dem Friedhof.«
»Das ist richtig.«
»Darf ich fragen, wann das war?«
Donata senkte den Kopf. Sie schluckte. Es fiel ihr schwer, darüber zu reden. Sie saugte die Luft tief ein, dann sprach sie mit leiser Stimme und bewegte dabei auch ihre Finger, als könnte sie so einen besseren Halt finden. »Es ist knapp drei Jahre her«, berichtete sie, »und beide sind zusammen gestorben.«
»Bitte?«
»Sie verunglückten.«
»Mit dem Auto?«
»Nein, sie brachen auf dem See ein. Beide waren zum Eislaufen gefahren. Vater und Tochter hingen sehr aneinander, Melanie und Jasper hatten ein sehr gutes Verhältnis. Meine Tochter vergötterte ihren Vater - und er sie. Melanie war zweiundzwanzig Jahre, als sie starb. Das Eis war zu dünn. Sie brachen ein, keiner konnte sich oder den anderen retten. Als man sie fand, da trieben sie bereits unter dem Eis. Sie können sich vorstellen, wie schrecklich es für mich gewesen war. Alle hier in Ripon waren entsetzt, und ich frage mich heute noch, weshalb die beiden überhaupt auf den See gegangen sind, um dort Schlittschuh zu laufen. Sie hätten wissen müssen, daß das Eis zu dünn war.«
»Es gab also Warnungen.«
Donata strich über ihre Augen. »Natürlich gab es die. Und nicht zu knapp. Zwar waren keine Schilder aufgestellt, aber jeder im Ort wußte Bescheid. Auch mein Mann und meine Tochter hätten es wissen müssen, aber sie sind trotzdem gegangen. Und das ist es, worüber ich nicht hinwegkomme. Manchmal stehe ich vor den Gräbern und halte stumme Zwiesprache mit ihnen, aber eine Antwort kriege ich nicht, wie Sie sich denken können.«
Ich nickte gedankenverloren. »Sie haben also Bescheid gewußt«, murmelte ich.
»Das kann ich beschwören.«
Ich sprach leise weiter. »Und beide sind trotzdem aufs Eis gegangen.«
»Richtig. Auf was wollen Sie hinaus, John?«
»Tja, mir gehen so einige Gedanken durch den Kopf. Vater und Tochter waren Freunde, gute Freunde. Sie vertrauten sich gegenseitig, sie vertrauten sich auch alles an, denke ich.«
»Da haben Sie recht.«
»Und was war mit Ihnen, Donata?«
»Was soll da schon gewesen sein«, murmelte sie. Es war ihr peinlich, darüber zu reden. »Ich kam mir vor wie das dritte Rad am Wagen. Mein Mann liebte seine Tochter abgöttisch, das war schon nicht mehr normal, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ich verstand und fragte: »Haben Sie nie Anzeige erstattet?«
»Nein, John.«
»Was hat Sie zurückgehalten?«
»Ihr Verhältnis war sehr intensiv und - ja, ich spreche es deutlich aus, auch intim, aber zu diesem Schritt konnte ich mich nicht
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