0891 - Knochenklaue
sich gelassen, stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und blieb auf der Schwelle stehen.
Mattes Licht füllte den Raum mit den schrägen Wänden. Das Licht fiel durch die ebenfalls schrägen Fenster, hinter deren Glas der Himmel zum Greifen nahe erschien. Das lag an der heraufziehenden Dämmerung.
Niemand wartete auf sie.
Ann war trotzdem nicht erleichtert, als sie ihr kleines Reich betrat. Links stand das Bett. Daneben noch bevor die Schräge begann, hatte ihr Vater ein Regal angebracht, auf dem Elektronik ihren Platz gefunden hatte.
Der CD-Player, der Kassettenrecorder, ein Walkman und der Kasten mit den CDs. Fernseher und Videorecorder standen dem Bett gegenüber, und zwar so, daß Ann im Liegen gegen die Mattscheibe schauen konnte.
Dazwischen stand der niedrige Tisch, die beiden Hocker aus buntem Stoff, und neben der Tür befand sich der eintürige Kleiderschrank. Unter dem zweiten Fenster stand noch ihr heller Schreibtisch mit dem Wippstuhl davor. Was an Wandfläche noch frei war, hatte sie mit Plakaten bedeckt, die allesamt schöne Szenen zeigte. Bilder aus Parfümwerbungen, wie sie auch an den Plakatsäulen und Wänden klebten.
Ann schloß die Tür nicht. Sie wäre sich eingeschlossen vorgekommen. Über den rustikalen Teppichboden mit den zahlreichen bunten Tupfern schritt sie hinweg bis zum Fenster, um durch die Schräge nach draußen zu schauen, wo es wieder etwas dunkler geworden war.
Ann Cordy ging davon aus, daß es bald anfangen würde zu schneien. Sie blickte gegen die fernen Berge, ohne sie richtig zu sehen, denn ihre Gedanken kreisten um das Erlebte.
Es gab einen Unsichtbaren. Irgendeinen Menschen, irgendeine Gestalt, die nicht sichtbar war, aber trotzdem lauerte und darauf wartete, zuschlagen zu können.
Aber wer? Und wie war es möglich, daß jemand nicht gesehen wurde und trotzdem noch in das normale Leben eingreifen konnte? Ann kam zu keinem Ergebnis, sie wußte die Erklärung einfach nicht, auch deshalb, weil sie nicht im Rationalen lag. Was sie erlebt und durchlitten hatte, paßte eigentlich nicht in ihr Weltbild.
Jemand hatte gekichert und geflüstert. Eine Stimme aus dem Unsichtbaren. Ann wußte nicht, ob diese Stimme einer Frau oder einem Mann gehört hatte. Sie war eigentlich neutral gewesen, so neutral wie die Stimme eines Geistes.
Ann erschrak über sich selbst, daß sie schon so dachte. Ein Geist, nein, daran hatte sie früher nicht geglaubt. Es gab keine Geister, es gab das alles nicht. Zumindest nicht in der Wirklichkeit. Das brachte ihr Weltbild völlig durcheinander. Da kam einiges auf sie zu, aber nichts paßte richtig zusammen.
Oder hatte sie sich die Stimme eingebildet? Hatten ihr die Nerven einen Streich gespielt?
Daran wollte sie auch nicht glauben. Sie brauchte nur an die Puppe zu denken, der der Hals umgedreht worden war.
Nein, nein, das mußte der Wahrheit entsprechen. Sie brauchte die Dinge nur zu addieren.
Das Gefühl, allein gelassen worden zu sein, verstärkte sich dabei. Sie starrte durch das Fenster, ihr Mund zuckte, sie war nicht in der Lage, ein Wort herauszubringen, und sie betrachtete die graue Landschaft, ohne sie im Detail zu sehen.
Alles war so anders, so kalt und so leer geworden. Etwas stieg in ihr hoch, was sie mit dem Begriff Verzweiflung umschrieb. Sie fühlte sich nicht mehr wohl, aber das war es nicht allein. Plötzlich fing sie damit an, ihr Zimmer zu hassen.
Der Raum war für sie zu einem Gefängnis geworden. Sie würde ihn nicht so schnell verlassen können, wenn es darauf ankam. Da war es besser, wenn sie das Haus verließ und zu einer Freundin ging.
Der Gedanke brauchte sich nicht erst zu festigen, er saß schon sofort in ihrem Kopf fest, und sie wollte ihn auch in die Tat umsetzen, als sie etwas hörte.
Ein Geräusch in der Stille!
Ann hielt den Atem an.
Das Geräusch war ihr nicht fremd, sie hatte es oft genug gehört, immer dann, wenn sie die Tür des alten Schranks aufzog. Aber wer sollte ihn jetzt aufziehen?
Oder war es nicht der Fall?
Ann stand weit genug vom Schrank entfernt. Sie hätte ihren Arm schon mehrmals verlängern müssen, um die Schranktür aufzuziehen. Und von allein würde…
Die junge Frau dachte nicht mehr weiter, aber sie hatte endlich den Mut gefunden, sich zu drehen.
Ihr Blick fiel gegen den Schrank.
Da war die Tür.
Und sie wurde allmählich geöffnet, obwohl niemand da war, der sie berührte.
***
Für Ann Cordy begann das Szenario der kalten Angst und des Grauens. Sie wollte es nicht wahrhaben, was
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