0891 - Knochenklaue
Daddy. Es sind die Schmerzen in meinem Hals. Er brennt wie Feuer.«
»Du mußt ganz ruhig bleiben. Es sind dort einige Wunden zu sehen, aber nur kleine.«
»Blut?« hauchte sie krächzend.
»Ja.«
»Warum?«
»Da war jemand…«
Anns Gesicht zuckte. Sie schien jeden Augenblick zu weinen anzufangen. Es mußte mit der Erinnerung zusammenhängen, die allmählich zurückkehrte. »Ich will sie fühlen, Dad«, flüsterte sie.
»Wen?«
»Die Wunden an meinem Hals.«
»Bitte.« Er führte die Hände seiner Tochter zum Hals. »Da, du kannst es selbst fühlen, Ann.«
»Ja, das Blut.«
»Aber es ist nicht schlimm.«
Sie fuhr mit ihren Fingerkuppen an der Halshaut entlang. Dabei rang sie nach Atem, sprach auch, aber ihre Stimme hatte noch längst nicht den Normalklang und die normale Lautstärke bekommen.
Auch weiterhin klang sie leise und schwach. Nur hatte dieses Tasten noch einen Nebeneffekt. Die Erinnerung kehrte wieder zurück. Richard konnte es ihr ansehen, der Ausdruck ihrer Augen machte es ihm klar, und sie bat um einen Schluck Wasser.
»Ich hole ihn dir.«
Richard eilte nach unten. Dem Zimmer seiner Tochter war kein Bad angeschlossen. Auf dem Weg wäre er beinahe gestürzt. Er fing sich mit letzter Kraft auf, füllte ein großes Wasserglas zur Hälfte und ging den Weg vorsichtiger zurück.
Seine Tochter lag noch immer flach auf dem Rücken. Er hob sie an und holte ein Kissen, das er unter ihren Kopf preßte. In dieser halb sitzenden Lage schaffte sie es, das Glas in die Hände zu nehmen und mit der Unterstützung ihres Vaters zu trinken. Das Schlucken schmerzte noch, Richard sah den Ausdruck in ihrem Gesicht, aber es klappte immer besser, und sie trank das Glas sogar leer.
Ihr Vater stellte es zur Seite, dann küßte er seine Tochter auf die feuchten Wangen. »Jetzt wird alles wieder gut, Ann, ich bin zur rechten Zeit gekommen.«
»Ja, das stimmt, Dad.« Sie schaute gegen die Decke.
Richard kannte sein Kind. Wenn sich dieser Blick in ihre Augen hineinschob, dann dachte sie über etwas nach und er hatte sich nicht geirrt. Schon bald hörte er ihre leise Flüsterstimme.
»Dad, ich kann mich erinnern. Ich weiß, wie es zu dem gekommen ist. Ich habe so etwas Furchtbares erlebt und…«
»Nicht jetzt.«
Sie umklammerte mit einem schnellen Griff sein Handgelenk, als hätte sie Furcht davor, daß ihr Vater verschwinden könnte. »Doch, ich will es sagen. Wir sind allein, du mußt es wissen. Es war einfach grauenhaft, denn es hat schon im Geschäft begonnen.«
»Bei Mrs. McBain?«
»Ja.«
»Hat man dich dort auch angegriffen?«
»Nein, nicht mich. So war es nicht, Vater. Aber es ist schon etwas passiert.«
Als Richard sah, daß Ann eine Gänsehaut bekam, wollte er ihr davon abraten, es zu sagen, aber sie ließ sich nicht beirren. Sie erzählte ihm mit heiser klingender und stockender Stimme von ihren unwahrscheinlichen Erlebnissen auf der Arbeitsstelle, und sie berichtete dabei so realistisch, daß es Cordy angst und bange wurde. Danach sprach sie davon, wie sie in diesem Zimmer überfallen worden war, und sie beschrieb genau die Skelettklaue, die auch er gesehen hatte.
Richard nickte. »Ja«, sagte er dann. »Ja, ich habe sie gesehen. Die Klaue und ein Stück Arm. Alles andere war verschwunden, als wäre es verschluckt worden.«
»Dann habe ich nicht geträumt?«
»Nein, das hast du nicht.«
Beinahe befreit atmete sie auf. »Und ich dachte schon, verrückt geworden zu sein. Eine gespaltene Persönlichkeit, die Vorgänge sieht, die es nicht gibt.«
»Es hat ihn gegeben, Ann!«
Sie bekam wieder die großen Augen. Nur waren sie diesmal nicht leer, sondern voller Zweifel.
»Aber wieso, Dad? Wieso ist das überhaupt möglich? Kannst du mir eine Antwort geben?«
»Leider nein.«
»Hast du es vertrieben?«
»Ja.«
»Mein Gott, wie?«
»Es ist verschwunden, als ich mich auf dein Bett warf.« Mehr wollte er nicht sagen, und Ann akzeptierte dies. »Da ist etwas auf uns zugekommen, über das wir nichts sagen können, für das wir auch keine Erklärung haben.«
»Glaubst du an Geister, Dad?«
»Vielleicht…«
»An lebende Tote? An Menschen, die einfach aus den Gräbern zurückkehren? Die keine Ruhe in den feuchten Gräbern haben? Ob als Zombies oder Skelette…«
»Nein!«
»Aber du hast es doch gesehen, Dad!«
»Das stimmt.«
»Und was sagst du dazu?«
Er beugte sich vor und streichelte die Wangen seiner Tochter. »Ich sage dazu gar nichts. Ich weiß nur, daß ich dich nicht allein lassen
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