0896 - Das Licht der Wurzeln
Zamorra wusste nicht um die richtigen Worte. Der Alte nahm ihm das Problem ab.
»Sie haben den Feind, den Töter und Zerstörer nicht vernichten können - das kann niemand. Doch sie haben ihn gestoppt, ihn getäuscht. Keiner von denen, die das Wagnis eingegangen sind, hat es geschafft, zu uns zu stoßen. Sie alle sind umgekommen. Doch ihr Bollwerk hält bis heute, denn die Angst lebt, Söhnchen, sie lebt.«
Zamorra starrte auf das Monument, dann wurde er von den Nachfolgenden weiter nach vorne getragen, denn ein Verweilen ließ diese Masse an Pilgern einfach nicht zu. Der Professor blickte sich um. Der Alte war verschwunden.
Der Franzose wandte den Kopf nach hinten, um sich noch einmal einzuprägen, was der riesige Steinblock ihm zu erzählen hatte.
Schwarze Flammen - auf jedem Dach, auf jedem Gebäude einer weißen Stadt…
Schwarze Flammen - die sich schützend zwischen Freund und Feind stellten…
Freund und Feind? Eine schmale Linie…
***
Serhat bewegte sich still wie eine Maus durch das Gebäude.
Huschend, nahezu geräuschlos - immer auf der Hut, um nicht entdeckt zu werden.
Er strich um den Flur herum, in dem das Zimmer lag, aus dem man ihn regelrecht hinausgeworfen hatte. Serhat war nicht dumm. Er wusste genau, dass seine Erzieherinnen ihn nicht mit dem Tod konfrontieren wollten. Sie glaubten, Lakirs Sterben könnte in Serhat Erinnerungen wecken, die besser ruhen sollten.
Wenn sie nur wüssten! Der Tag, an dem Serhat nach dem Spielen mit seinen Freunden nach Hause gekommen war, dieser bestimmte Tag… er war immer ganz nahe bei ihm.
Er entsann sich noch ganz genau an sein Leben vor diesem Tag. Seine Eltern ließen ihrem kleinen Liebling alle Freiheiten, die ein so junger Bursche hier auf dem Lande in der Türkei genießen konnte. Sie selbst arbeiteten beide in der nahe gelegenen Stadt; auf Serhat achtete tagsüber seine Großmutter, die ihren Enkelsohn regelrecht vergötterte.
An diesem einen, diesem bestimmten Tag jedoch war die Großmutter nicht da, als Serhat nach Hause kam. Dafür wartete das Entsetzen auf den Jungen. Im Wohnzimmer fand er seine Eltern… mit durchschnittenen Kehlen. Diebe? Raubmörder also? Es fehlte nichts, wie man später herausfand.
Serhat hatte in diesem Moment aufgehört, ein normales Kind zu sein. Etwas war in ihm zerbrochen - und etwas anderes aufgebrochen, denn seit diesem Tag konnte er Dinge sehen , er konnte Dinge in den Köpfen anderer sichtbar machen. Er wusste ja selbst nicht, wie er das machte. Es war eben manchmal einfach so da.
Der Tod selbst hatte keinen Schrecken mehr für Serhat, seit er neben seinen ermordeten Eltern von Nachbarn gefunden worden war. Auch der Tod von Lakir nicht, denn sterben musste jeder, das wusste Serhat längst. Doch bei Lakir war er sicher, dass ihre Zeit noch lange nicht gekommen war.
Und doch - sie starb.
Serhat wäre gerne bei ihr gesessen, hätte ihre Hand gehalten. Vielleicht hätte sie ja noch eine Botschaft an ihn? Etwas, das sie Vinca unbedingt noch wissen lassen wollte.
Serhat erschrak, denn ganz in diesen Gedanken gefangen, war er bis vor die für ihn verbotene Tür gekommen. Die war allerdings jetzt nicht mehr verschlossen, sondern nur leicht angelehnt. Serhat zögerte, doch dann siegte sein Wunsch bei Lakir sein zu können.
Was er sah, trieb ihm eine Gänsehaut über den kleinen Körper. Millisan Tull und Rola DiBurn standen mit erstarrten Gesichtern neben der großen Couch auf der Lakir ruhte. Doch Serhat suchte vergeblich nach dem freundlichen Gesicht der Paromerin. Er begriff erst langsam, dass die beiden Frauen ein weißes Tuch über Lakir gedeckt hatten… auch über ihren Kopf.
Serhat gab einen Schrei von sich, und Millisan Tull versuchte den Jungen zu greifen, doch der war wendig… wie eine Maus es eben war.
Mit einer flinken Bewegung riss er das Tuch von Lakirs Gesicht. »Das dürft ihr nicht. Sie lebt doch noch!«
Rola DiBurn legte die Hände auf die Schultern des Jungen.
»Nein, Serhat, Lakir ist von uns gegangen. Ich weiß, es fällt dir bestimmt schwer das zu akzeptieren, aber es ist leider so.«
Serhat sah Rola an. »Nicht jedes Leben endet mit dem letzten Atemzug.« Rola ließ Serhats Schultern los. Die Worte aus dem Mund eines knapp Sechsjährigen? Wenn Serhat sonst überhaupt sprach, dann eher kindlich - passend zu seiner Altersstufe. Waren das seine eigenen Worte gewesen? Das hatte wissend geklungen - so redete doch kein Kind!
Serhat setzte sich neben die leblose Lakir auf die
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