0896 - Das Licht der Wurzeln
konnte. Doch der Junge war hellwach.
»Ihr müsst doch nur das Licht fragen.« Die Köpfe der Anwesenden ruckten herum. Dass Serhat sprach, war eine ausgesprochene Seltenheit. Als man ihn neben den Leichen seiner Eltern gefunden hatte, war er stumm geblieben - kein Wort, kein Schrei, nicht einmal ein Schluchzen. Er hatte nur still und stumm in sich hinein geweint. Lange Zeit hatten alle geglaubt, der Schock hätte seinen Verstand für alle Zeiten mit einer dicken Eisschicht umgeben, doch hier, im Haupthaus von no tears , hatte der Junge seine Sprache langsam wiedergefunden. Nach wie vor sprach er selten, und auch nur dann, wenn er das für richtig hielt.
Van Zant ging neben Lakir in die Hocke, damit er Augenkontakt zu dem Kind herstellen konnte. Serhat streichelte die Wange seines großen und dicken Freundes. Artimus lächelte. »Wie hast du das eben gemeint, alter Kumpel?«
Serhats kleine Hände deuteten auf die beiden Paromer. »Sie waren beide dort - beim Licht. Das Licht weiß so viel, bestimmt kennt es den Weg, den ihr alle sucht.« Van Zant traute seinen Ohren nicht. Kindergeschwätz? Die übermäßige Phantasie eines Jungen, der Schlimmes mitgemacht hatte? Vielleicht hätte der Physiker an solche Erklärungen glauben können. Doch hier ging es um Serhat. Der Kleine hat schon mehr als einmal seltsame Prophezeiungen von sich gegeben.
Als die Vampirin Sinje-Li no tears überfallen hatte, war es zu einer seltsamen Begebenheit gekommen. Alle Kinder hatten versucht, sich vor der Vampirin in Sicherheit zu bringen, doch Serhat hatte seinen Zeigefinger gegen die Stirn von Sinje-Li gelegt. Für Sekunden schien es den Umstehenden so, als würden entsetzliche Erinnerungen auf die Vampirin einstürzen, die sie längst verdrängt hatte. Panisch entfernte sie sich von Serhat.
Irgendetwas steckte in diesem kleinen Jungen, etwas, das sich ab und an ein Ventil zu suchen schien. Ungeschickt winkte Serhat nun auch Vinca zu sich. Als er die Paromer beide dicht bei sich hatte, streckte er seine Hände aus, berührte Lakirs Stirn und Vincas Wurzeltattoo. Die Augen der beiden weiteten sich; wie zu Stein erstarrt schienen ihre Blicke nicht mehr in dieser Welt zu sein. Das alles dauerte keine zehn Sekunden, doch van Zant kam es wie eine kleine Ewigkeit vor. Dann entspannten sich die Paromer wieder.
Serhat kuschelte sich - als würde er eine Bestrafung fürchten - ganz dicht an Lakir, die ihn in die Arme schloss. Die frühere Wächterin von Paroms weißer Stadt schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Hatte ich das alles wirklich vergessen? Wie konnte das geschehen, Vinca?«
Der kräftige Mann, auf dessen Stirn das Tattoo einer Wurzel prangte, wusste keine Antwort zu geben. Es dauerte Minuten, bis er sich endlich zu van Zant und Professor Zamorra wandte.
»Das Band der Speere müssen wir nun nicht mehr bemühen. Ich kenne nun den Weg zu einer Welt, auf der wir Antworten finden können. Kommt ihr mit mir?«
Zamorra und Artimus wechselten einen langen Blick, in dem die Fragen brannten, die es zu beantworten gab. Endlich nickte der Südstaatler. »Gut, wo geht es hin?«
Es war Lakir, die eine Antwort parat hatte.
»Zur Welt, die in sich geteilt ist - und zum Licht der Wurzeln…«
***
Phase eins - Freude
Sie wirkte so jung und zerbrechlich.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht passte jedoch überhaupt nicht zu diesen Eindrücken. Eine tiefe Falte lag zwischen ihren Augenbrauen, der Mund war wütend zu einem schmalen und blutleeren Strich zusammengepresst. Sie war wütend, ja, das war sie! Wütend auf sich selbst, denn sie hatte es wieder einmal übertrieben - was sie jedoch ganz sicher niemals zugeben würde. Kam nicht in Frage!
Vorsichtig betastete sie mit ihren langen Fingern - die ein wenig an Spinnenbeine erinnerten - das kleine Wesen, das regungslos vor ihr lag. Vollkommen regungslos, denn es war tot. Sie stupste es ein wenig an, doch da kam keine Reaktion mehr. Das Wesen erinnerte an einen Ball mit Armen und Beinen, der jetzt aber eher wie ein Luftballon wirkte, dem man die Luft gestohlen hatte.
Es passiert mir immer wieder . Hinter ihr waren wispernde Stimmen zu hören. Sie musste sich nicht umdrehen, denn ihr war klar, dass dort die anderen Spielgefährten darauf warteten, was nun geschehen würde. Irgendwann spielt niemand mehr mit mir, wenn ich es nicht lerne, mich zu kontrollieren.
Sie seufzte tief, dann konzentrierte sie sich auf das, was nun zu tun war. Aus ihren Fingerspitzen wuchsen feinste Verästelungen, jede von
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