0898 - Praxis des Teufels
unten an den Gebäude-Komplex herankam, sah alles noch relativ hell und durch das warme Licht auch einigermaßen heimelig aus. Doch als sie vorne vor dem Haupteingang stand, der nach Osten ging und damit im Schatten der untergehenden Sonne lag, wirkte das klobig-moderne Sanatorium auf einmal düster und bedrohlich. Sie musste sich überwinden, hineinzugehen - besonders bei dem Gedanken daran, was möglicherweise dort auf sie wartete.
Doch dann gab sie sich einen Ruck. Ihre Großmutter hatte den Schutz, den ihr Jadeanhänger ihr bot, mit ein paar Kräutern, die sie in der Tasche trug, und einigen besonders geweihten Amuletten verstärkt. Zwar mussten diese Schutzzauber gegen die Wong Siang täglich erneuert werden, aber sie würde ja auch wieder nur bis acht Uhr morgen früh hier bleiben.
Als sie das Schwesternzimmer auf der Station C betrat, fand sie dort bereits ihre Kollegin Rita vor. Die saß am Fenster und starrte mit einer Tasse Tee in der Hand hinaus auf das wunderbare Panorama der Stadt, die sich unter der Klinik ausbreitete.
»Hallo, Rita, alles in Ordnung?«
Erst jetzt schien Rita zu bemerken, dass jemand ins Zimmer getreten war.
»Oh, hi. - Nein, eigentlich nicht. Stell dir vor, Mrs. Sorensen ist ins Koma gefallen. Einfach so! Ihr Face-Lifting hatte sie eigentlich gut überstanden. Keiner weiß, was los ist, selbst Dr. Morcomb steht vor einem Rätsel - und zu allem Überfluss hat ihre Familie Anzeige gegen ihn erstattet!«
Debbie bemühte sich Überraschung vorzutäuschen. Das fiel ihr nicht allzuschwer, denn obwohl sie die Nachrieht, dass Gloria Sorensen ins Koma gefallen war, nach den Erlebnissen der vergangenen Nacht sie nicht sonderlich überraschte, hatte sie mit der Anzeige gegen Dr. Morcomb doch nicht gerechnet.
»Aber was passiert denn jetzt?«, fragte sie dann zögernd. Wenn der Arzt jetzt unter Beobachtung stand, würde er vielleicht vorsichtiger mit seinen Teufelsritualen werden - was es sicher für die Polizei und auch den seltsamen französischen Dämonenjäger schwerer machen würde, ihn zu überführen.
Aber mach dir nichts vor , dachte Debbie düster. Die Polizei hätte hier überhaupt nichts getan - oder glaubst du, die denken an dämonische Kräfte?
Rita trank noch einen Schluck von ihrem Tee und stand auf. »Ich habe keine Ahnung. Mrs. Sorensen soll in ein Gemeindekrankenhaus überführt werden, sie braucht Intensivpflege. Außerdem muss sie wegen der Anzeige einem Gerichtsmediziner übergeben werden.«
Debbie horchte auf. Vielleicht war das ein Ansatz. In einem allgemeinen städtischen Krankenhaus - da gab es einige in Hongkong - war es für Fremde leichter, sich umzusehen.
»Weißt du denn schon, in welches Krankenhaus Mrs. Sorensen kommt?«
»Wahrscheinlich ins Queen-Elisabeth-Krankenhaus nach Kowloon, da arbeitet ein amtlich bestellter Pathologe. Debbie, sei nicht sauer, ich gehe jetzt. Hier war, seit du heute früh gegangen bist, keine Sekunde Ruhe auf der Station.«
Debbie nickte. »Ja, geh nur«, meinte sie mechanisch. »Ich kümmere mich hier um alles.«
Für eine Weile war die Enkelin der Hakka-Geisterbeschwörerin mit Übergabeberichten und dem Vorbereiten der Patienten auf die Nachtruhe beschäftigt, und so kam sie auch in das Zimmer von Naomi Sutton, der jungen Patientin, die sich vor drei Tagen die Nase hatte richten lassen. Immer noch sahen ihre Wangen rechts und links von der Nase grün und blau aus und die Nasenpartie war fest in einen stabilen Verband gepackt, der der Patientin das Sichtfeld einschränken musste.
Während Debbie das Abendessen abräumte und Naomi Sutton das Kopfkissen etwas aufschüttelte, fragte sie sich zum hundertsten Mal, was wohl diese ganzen Leute dazu brachte, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen, nur um einem Ideal nachzujagen, dass sie so oder so nie erreichen würden. Sie lächelte Miss Sutton ein letztes Mal zu und wollte schon mit dem Tablett mit den Überresten des Abendbrots das Zimmer verlassen, da hielt eine schwache Stimme sie zurück.
»Schwester, was ist hier heute eigentlich vorgegangen?«
Debbie drehte sich um. »Nun«, meinte sie zögernd und improvisierte frei. Es wäre ihrer Ansicht nach falsch gewesen, einer Kranken - und das waren die Menschen hier - die volle Wahrheit zu sagen. »Eine Patientin ist nach einer sehr komplizierten Operation ins Koma gefallen. Ihre Verwandten wollen sich nicht damit abfinden.«
Irritiert sah sie, dass das die Patientin dennoch zu erschrecken schien. Miss Sutton richtete sich auf
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