0898 - Todesruf der Alten Göttin
die Urgöttin, die verschiedene Namen gehabt hat, die Urform des weiblichen, die sich durch alle Religionen hindurchzieht, von Beginn der Menschheit an, sobald die ihre Träume und Wünsche in den Himmel oder hinein in die Götterwelt projizierten. Hast du verstanden?«
Shao fühlte sich wieder besser. Der Kontakt mit dem Boden war normal geworden. »Muß ich das?« fragte sie.
»Wieso?«
»Suko, du hast mir viel erzählt, aber ich…«
»Dann höre mir weiter zu, bitte.«
»Ich warte.«
»Gordy hat erklärt, daß er durch dich Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen kann.«
»Zu dieser alten Urkraft?« hauchte Shao.
»Ja.«
»Aber wie ist das möglich?«
»Durch Amaterasu, Shao. Du bist in ihrem Reich gewesen. In dir existiert etwas von der Urkraft des weiblichen. Du wirst wahrscheinlich der Katalysator auch zu seiner Rettung sein.«
»Rettung?«
»Ja, man ist ihm auf der Spur. Die Geschwister Stark, die schon im alten Ägypten seine Todfeinde gewesen sind. Es wäre zu kompliziert, es dir alles zu erklären. Ich hoffe, daß wir später noch Zeit genug haben. Wichtig ist nur, daß ich dich sehe, daß ich bei dir sein kann, denn Gordy hat gemeint, daß die Starks nicht nur ihn suchen, sondern auch dich, weil sie nicht wollen, daß der Kontakt zwischen dir und dem Jungen aufgenommen wird, und Gordy ihnen so entgleitet.«
»Ich bin also in Gefahr?« fragte Shao. Sie wunderte sich darüber, wie klar und nüchtern sie denken konnte und sie auch diese Frage gestellt hatte.
»Es läuft darauf hinaus.«
Sie schwieg. Schweiß trat aus ihren Poren, und sie spürte ihn klebrig im Gesicht.
»He, hörst du noch zu?«
Ein unsicher klingendes »Ja« war die Antwort.
»Was hast du denn?«
»Ich kann es dir nicht genau sagen, Suko, aber ich habe den Eindruck, daß das andere bereits in der Nähe lauert. Genaues kann ich dir nicht sagen, ich nehme an, daß es die Personen sind, die Stark heißen und…«
»Keine Personen mehr, Shao, die Körper sind verbrannt. Es müssen ihre Astralleiber sein…«
»Aha, deshalb.«
»Wieso? Was heißt deshalb?«
Die Chinesin wischte über ihre Stirn. »Ich will keine Panik haben, Suko, aber ich glaube fest daran, daß ich in unserer Wohnung nicht mehr allein bin. Etwas ist hier eingedrungen wie ein Dieb.«
»Verdammt! Hast du etwas gesehen?«
»Nein, nur gefühlt.«
»Und wie?«
»Kann ich dir nicht sagen. Es war, als würde ich selbst neben mir hergehen. Der Boden war nicht mehr so hart, ich schwebte förmlich über ihn hinweg, ich war nicht mehr ich.«
»Halte um Himmels willen durch, Shao. Ich bin gleich bei dir.«
»Gut, wann?«
»Noch zehn Minuten.«
»Okay, ich warte.« Shao hatte es nicht gewollt, aber der Hörer war ihr plötzlich aus den schweißfeuchten Fingern gerutscht und landete auf dem Apparat.
Keine Verbindung mehr zu Suko. Sie stand neben dem Telefon und fühlte sich in ihrer vertrauten Umgebung von einer Sekunde zur anderen, so schrecklich allein. So wie jemand, den man aus seinem normalen Leben fortgerissen hat.
Durch Sukos Anruf hatte sie zwar mehr erfahren, aber sie wußte noch immer zuwenig. Sie hatte den Fall nicht von Beginn an miterlebt, und jetzt schwebte sie in einem Vakuum, war aber voll hineingerissen worden.
Zwei Astralleiber, die einmal zu Körpern gehört hatten, die es nicht mehr gab.
Wieso wollten sie etwas von ihr? Stimmte es tatsächlich, daß sie indirekt etwas mit dem Jungen zu tun hatte? Vorstellen konnte Shao es sich nicht, aber sie begriff auch nicht die Gesetze dieser gewaltigen Welt der Götter und Mysterien. Das war ein Kosmos für sich, und Shao hatte in Amaterasus Reich nur einen kleinen Teil davon mitbekommen. Und doch mußte in ihr etwas sein, das auch in den Urkräften der anderen Göttinnen gewesen war, wobei jede von der starken Kraft der Mutter Erde partizipiert hatte.
Auch sie…
Auch Gordy?
Er war auf der Suche. Er hatte eine Mutter, eigentlich sogar viele Mütter, denn er war aus der Kraft der Erde entstanden.
Der Gedanke schrillte durch den Kopf der Chinesin. Ohne Vater? Eine Geburt oder ein Entstehen, bei dem auf die männliche Mitwirkung verzichtet werden konnte?
Gehörte das zu den Geheimnissen des Altertums oder der Psychonauten? Es waren zu schwere Fragen, die Shao beschäftigten, und allein würde sie darauf keine Antwort bekommen. Nur war niemand hier, der ihr eine Erklärung hätte geben können.
Bis Suko eintraf, würde Zeit vergehen, und die mußte sie überbrücken, ohne daß sie an Leib und Seele
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