09 - Denn sie betrügt man nicht
und Sahlah einander in der Grundschule begegnet waren. Sie hatte sich mehreren plastischen Operationen unterzogen, um dem Unglücksgesicht, mit dem sie geboren war, halbwegs passable Züge verleihen zu lassen, doch hinter dieser neuen Fassade war sie immer noch dasselbe Kind: stets voller Hoffnung und Eifer, stets voller Pläne, ganz gleich, wie unrealistisch sie waren.
Sahlah hatte sich alle Mühe gegeben, Rachel klarzumachen, daß ihr großer Plan - gemeinsam eine Wohnung zu kaufen und dort glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende zusammenzuleben - nicht durchführbar war. Ihr Vater hätte ihr niemals erlaubt, ein solches Leben zu führen, fern von der Familie und zusammen mit einer Frau. Und selbst wenn er in einem Anfall von Wahnsinn seiner einzigen Tochter gestatten würde, einen so abartigen Weg einzuschlagen, könnte Sahlah es nicht tun. Früher einmal hätte sie es vielleicht gekonnt. Aber jetzt war es zu spät.
Und mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde es noch später. Haythams Tod war in so vieler Hinsicht ihr eigener. Wäre er am Leben geblieben, hätte nichts eine Rolle gespielt. Jetzt, da er tot war, spielte alles eine Rolle.
Sie schob die Hände unter ihrem Kinn zusammen und schloß die Augen. Sie sehnte sich nach einem Hauch Meeresluft, die ihren Körper kühlen und ihren fiebrigen Geist beruhigen würde. In einem Roman - den sie vor ihrem Vater versteckt hatte, weil der solche Lektüre nicht gutgeheißen hätte - hatte sie einmal den Ausdruck »ihre Gedanken rasten« gelesen und nicht verstanden, wie Gedanken so etwas fertigbringen sollten. Aber jetzt wußte sie es. Ihre Gedanken rasten wie eine ganze Herde Gazellen, seit sie wußte, daß Haytham tot war. Von diesem Moment an hatte sie hin und her überlegt, was sie tun, wohin sie gehen, mit wem sie sprechen, wie sie sich verhalten und was sie sagen sollte. Sie hatte keine Lösung gefunden. Das Resultat war, daß sie nun wie gelähmt war. Beim Warten versteinert. Doch worauf sie wartete, hätte sie nicht sagen können. Auf Rettung vielleicht. Oder auf die Wiederherstellung ihrer Fähigkeit zu beten. Früher hatte sie fünfmal täglich mit absoluter Hingabe gebetet. Jetzt hatte sie diese Gabe verloren.
»Na, ist der Troll gegangen?«
Sahlah drehte sich um. An der Tür stand Yumn, eine Schulter an den Pfosten gelehnt. »Sprichst du von Rachel?« fragte Sahlah.
Yumn trat ins Zimmer, die Arme erhoben, um ihr Haar zu flechten. Der Zopf, der dabei herauskam, war dürftig, kaum so dick wie der kleine Finger einer Frau. An manchen Stellen schimmerte wenig gefällig Yumns Kopfhaut durch.
»Sprichst du von Rachel?« äffte sie ihre Schwägerin nach. »Warum redest du eigentlich immer, als hättest du einen Schürhaken im Hintern stecken?«
Sie lachte. Sie hatte das dupatta abgenommen, das sie stets zu tragen pflegte, und ohne den Schal, ohne eine verhüllende Strähne Haar fiel ihr Wanderauge noch mehr auf als sonst. Wenn sie lachte, schien das Auge hin und her zu glitschen wie ein rohes Eigelb. »Massier mir den Rücken«, befahl sie. »Ich möchte heute abend entspannt sein für deinen Bruder.« Sie ging zu dem Bett, in dem bald ihr älterer Sohn schlafen würde, streifte ihre Sandalen ab und ließ sich auf die himmelblaue Tagesdecke sinken. Sie legte die Beine hoch und drehte sich auf die Seite. »Sahlah, hast du mich gehört?« fragte sie. »Massier mir den Rücken.«
»Nenn Rachel nicht Troll. Sie kann so wenig für ihr Aussehen wie -« Sahlah verkniff sich das letzte Wort. »Wie du« wäre sofort, begleitet von einem entsprechenden hysterischen Anfall, zu Muhannad weitergetragen worden. Und Sahlahs Bruder hätte sie die Beleidigung der Mutter seiner Söhne büßen lassen.
Yumn beobachtete sie mit einem hinterhältigen Lächeln. Sie wünschte, Sahlah würde den Satz vollenden. Nichts hätte sie lieber gehört als das Klatschen von Muhannads flacher Hand auf der Wange seiner jüngeren Schwester. Aber Sahlah war nicht gewillt, ihr diese Freude zu machen. Vielmehr trat sie zum Bett und wartete, während Yumn ihren Oberkörper entkleidete.
»Ich möchte Öl«, sagte sie im Befehlston. »Das mit dem Eukalyptusgeruch. Und wärme es erst in deinen Händen, kalt kann ich es nicht ausstehen.«
Sahlah holte gehorsam das Öl, während Yumn sich seitlich liegend ausstreckte. Ihr Körper zeigte die Spuren der zwei Schwangerschaften, die so rasch aufeinandergefolgt waren. Yumn war erst vierundzwanzig Jahre alt, aber ihre Brüste begannen schon
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