09 - Denn sie betrügt man nicht
verwiesen.
Barbara fragte: »Hast du dann Zeit, ein bißchen zu quatschen? Mir von deinem Fall zu erzählen?«
Emily zögerte. Barbara wußte, daß sie jetzt erst einmal überlegte, ob der Vorschlag akzeptabel war, und wartete. Ihr war klar, daß Emily sich auf nichts einlassen würde, was entweder die Ermittlungen oder ihre neuerworbene Position gefährden könnte. Schließlich warf Emily einen Blick zurück zum Haus und schien einen Entschluß zu fassen.
»Hast du schon gegessen, Barb?« fragte sie.
»Ja, im Breakwater.«
»Das war echt mutig. Ich sehe förmlich, wie sich das Cholesterin in deinem Blut ansammelt, während wir hier reden. Aber ich hab' seit heute morgen nichts mehr gegessen. Ich will jetzt nur noch nach Hause. Komm doch mit. Wir können quatschen, während ich esse.«
Den Wagen würden sie nicht brauchen, fügte sie hinzu, als Barbara in ihrer Umhängetasche nach den Schlüsseln zu suchen begann. Sie wohnte gleich am oberen Ende der Straße, wo die Martello Road in den Crescent überging.
Bei dem flotten Tempo, das Emily vorlegte, brauchten sie keine fünf Minuten für den Marsch. Ihr Haus war fast am Ende des Crescent, das letzte in einer Zeile von neun Reihenhäusern, die sich in unterschiedlichen Stadien entweder der Erneuerung oder des Verfalls zu befinden schienen. Emilys gehörte zur ersteren Gruppe: Es war bis zum zweiten Stockwerk eingerüstet.
»Du mußt das Chaos entschuldigen.« Emily führte Barbara über die acht gesprungenen Stufen der Vordertreppe hinauf auf eine schmale Veranda, deren Wände edwardianische Kacheln schmückten. »Das wird ein richtiges Paradestück, wenn es fertig ist, aber im Moment komme ich kaum dazu, etwas daran zu machen.« Mit der Schulter drückte sie die abgebeizte Haustür auf.
»Komm mit nach hinten«, sagte sie, schon auf dem Weg durch einen Korridor, in dem es nach Sägemehl und Terpentin roch. »Das ist der einzige Teil, der halbwegs bewohnbar ist.«
Falls Barbara vorgehabt hatte, sich bei Emily Barlow einzunisten begrub sie jeden Gedanken daran, als sie »hinten« sah. Emily schien einzig in der stickigen Küche zu hausen, die nicht viel größer war als eine Kammer und mit einem Kühlschrank, einem Herd, einer Spüle und einer Arbeitsplatte ausgestattet war, wie sich das für eine Küche gehörte. Außerdem jedoch hatte Emily ein Feldbett, einen Klapptisch und zwei Klappstühle aus Metall sowie einen uralten Badezuber aus Zeiten, als es noch kein fließendes Wasser gab, in den kleinen Raum hineingezwängt.
Barbara wollte lieber nicht fragen, wo die Toilette war.
Eine nackte Birne, die von der Decke herabhing, diente als einzige Beleuchtung. Eine Taschenlampe, die neben einer Ausgabe von Eine kurze Geschichte der Zeit auf dem Feldbett lag, zeigte allerdings, daß Emily sich zur abendlichen Entspannungslektüre - wenn man bei einem Buch über Astrophysik überhaupt von Entspannungslektüre reden konnte - etwas mehr Licht gönnte. Das ganze Bettzeug bestand aus einem Schlafsack und einem dicken Kopfkissen, auf dem Snoopy und Woodstock die Hundehütte aus dem Ersten Weltkrieg über Frankreich flogen.
Es war eine Notunterkunft, wie Barbara sie der Emily Barlow, die sie aus Maidstone kannte, niemals zugetraut hätte. Hätte sie sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, wie Emily lebte, so hätte sie an etwas schnörkellos Modernes mit viel Glas, Metall und Stein gedacht.
Emily stellte ihre große Leinentasche auf der Arbeitsplatte ab, lehnte sich dagegen und schob die Hände in die Hosentaschen. Als hätte sie Barbaras Gedanken gelesen, sagte sie: »Das lenkt mich von der Arbeit ab. Wenn ich das Haus hier fertig renoviert habe, such' ich mir ein anderes. Wenn ich das nicht hätte und ab und zu einen willigen Mann, würde ich, glaube ich, verrückt werden.« Sie legte den Kopf schief. »Ich hab' dich noch gar nicht gefragt, wie geht's deiner Mutter, Barb?«
»Weil du gerade vom Verrücktwerden sprichst oder ganz allgemein?«
»Tut mir leid. So hab' ich's nicht gemeint.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Lebt sie noch bei dir?«
»Ich hab's nicht mehr geschafft.« Barbara berichtete Emily kurz und fühlte sich dabei so, wie sie sich immer fühlte, wenn sie widerstrebend bekannte, daß sie ihre Mutter in ein privates Pflegeheim gegeben hatte: schuldig, undankbar, egoistisch, rücksichtslos. Es spielte keine Rolle, daß ihre Mutter dort besser aufgehoben war als in Barbaras Obhut. Sie war und blieb ihre Mutter. Sie schuldete
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