09 - Denn sie betrügt man nicht
zunächst geglaubt hatte. Sie hatte kein Make-up mitgenommen. Da ihr ganzes Kosmetikarsenal sowieso nur aus einer Tube Lippenpomade und einem Töpfchen Rouge bestand, das einmal ihrer Mutter gehört hatte, hatte sie es nicht der Mühe wert befunden, das Zeug einzupacken. Sie betrachtete sich gerne als eine Frau, deren Ehrlichkeit es nicht gestattete, mehr zu tun, als sich in die Wangen zu kneifen, um ihrem Gesicht etwas Farbe zu geben. Die Wahrheit war jedoch, daß sie, vor die Wahl gestellt, ihr Gesicht zu bemalen oder morgens eine Viertelstunde länger zu schlafen, ihr Leben lang den Schlaf gewählt hatte. Bei ihrem Job war ihr das immer als das gescheitere erschienen. Folglich brauchte sie keine zehn Minuten, um sich für den kommenden Tag zu rüsten, und vier davon brachte sie damit zu, auf der Suche nach einem frischen Paar Socken fluchend in ihrem Matchsack zu kramen.
Sie putzte sich die Zähne, bürstete schnell ihr Haar, packte die Schätze, die sie am vergangenen Abend aus Querashis Zimmer mitgenommen hatte, in ihre Umhängetasche und ging los. Im Korridor hingen die Frühstücksgerüche wie lästige Kinder am Rockzipfel ihrer Mutter. Irgendwo waren Schinken, Eier und Würstchen gebraten worden, Toast war verbrannt, Tomaten und Champignons gegrillt worden. Barbara brauchte keinen Plan, um den Speisesaal zu finden. Sie folgte einfach den immer intensiver werdenden Gerüchen die Treppe hinunter und in einen schmalen Korridor im Erdgeschoß, wo Besteckklappern und Stimmengemurmel die Führung übernahmen.
Eine Stimme traf klar und deutlich ihr Ohr, als sie sich näherte. Ein Kind sagte aufgeregt: »Hast du gewußt, daß man hier mit einem Hummerboot fahren kann? Machen wir das, Dad? Und ein Riesenrad gibt's auch. Fahren wir da heute mal damit? Ich hab's gestern abend, als ich mit Mrs. Porter im Garten war, immerzu angeschaut, und sie hat gesagt, als sie in meinem Alter war, hat das Riesenrad -«
Eine leise Stimme unterbrach das hoffnungsfrohe Geplapper. Wie immer, dachte Barbara fast grimmig. Was zum Teufel war los mit dem Mann? Er unterdrückte jede spontane Regung des kleinen Mädchens. Unerklärlich gereizt und kampfbereit, obwohl ihr, wie sie wußte, dergleichen gar nicht zustand, näherte sich Barbara der Tür.
Hadiyyah und ihr Vater saßen in einer düsteren Ecke des alten holzgetäfelten Speisesaals. Man hatte sie abseits von den anderen Hotelgästen gesetzt, drei älteren weißhaarigen Paaren, deren Tische direkt an den Terrassen standen und die sich ihrem Frühstück widmeten, als wäre außer ihnen niemand im Saal. Eine Ausnahme bildete nur eine alte Dame mit einer Gehhilfe, die an ihrem Stuhl lehnte. Dies schien die eben erwähnte Mrs. Porter zu sein; von ihrem Ende des Saales aus nickte sie Hadiyyah ermutigend zu.
So sehr überraschte es Barbara gar nicht, Hadiyyah und Taymullah Azhar in diesem Hotel anzutreffen. Sie hatte zwar erwartet daß die beiden bei der Familie Malik wohnen würden, doch da das offenbar nicht möglich war, war es eigentlich ganz logisch, daß sie das Burnt House Hotel gewählt hatten. Haytham Querashi hatte ja hier gewohnt, und Azhar war Querashis wegen nach Balford gekommen.
»Ah! Sergeant Havers.« Barbara drehte sich um und sah hinter sich Basil Treves mit zwei Frühstückstellern in den Händen. Er strahlte sie an. »Wenn Sie mir gestatten, Ihnen Ihren Tisch zu zeigen ...«
Als er sich an ihr vorbeischieben wollte, um die Honneurs zu machen, stieß Hadiyyah einen Freudenschrei aus. »Barbara! Du bist gekommen!« Sie ließ ihren Löffel in ihre Cornflakes fallen, daß die Milch über das rosafarbene Tischtuch spritzte. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und hüpfte durch den Saal. »Da bist du ja! Da bist du ja! Da bist du ja am Meer!« sang sie strahlend, und ihre Zöpfe mit den gelben Schleifen flogen. Sie sah aus wie der Sonnenschein persönlich: gelbe Shorts und gelbgestreiftes T-Shirt, gelbe Ringel söckchen und gelbe Sandalen. Sie ergriff Barbaras Hand. »Baust du nachher eine Sandburg mit mir? Gehen wir zusammen Muscheln suchen? Ich möcht' so gern auf den Pier und Autoscooter fahren. Kommst du mit?«
Basil Treves beobachtete die Szene konsterniert. Er sagte mit Betonung: »Wenn ich Ihnen jetzt Ihren Tisch zeigen darf, Sergeant Havers?« und wies mit dem Kopf zu einem Tisch an einem offenen Fenster, eindeutig auf der englischen Seite.
»Ich würde lieber da drüben sitzen«, erwiderte Barbara und streckte ihren Daumen in Richtung der düsteren Pakistaniecke.
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