09 - Denn sie betrügt man nicht
»Zuviel frische Luft am Morgen schlägt mir immer auf den Magen. Es stört Sie doch nicht?«
Ohne auf eine Antwort von ihm zu warten, ging sie zu Azhar hinüber. Hadiyyah hüpfte ihr voraus und rief: »Sie ist hier! Schau, Dad! Sie ist hier! Sie ist hier!« und schien gar nicht zu bemerken, daß ihr Vater ihre Begeisterung über Barbaras Ankunft keineswegs teilte.
Basil Treves hatte inzwischen die beiden Frühstücksteller vor Mrs. Porter und ihrer Begleitung abgestellt. Er eilte herüber, um Barbara an dem Tisch neben Azhars einen Stuhl herauszuziehen.
»Ja, selbstverständlich«, beeilte er sich zu sagen. »Sie nehmen Orangensaft, Sergeant Havers? Wie steht's mit Grapefruit? Oder lieber Melone?« Er schüttelte die wigwamförmig gefaltete Serviette mit so elegantem Schwung aus, als hätte er von Anfang an vorgehabt, Sergeant Havers zu den Ausländern zu setzen.
»Nein, sie sitzt bei uns! Bei uns!« rief Hadiyyah. Sie zog Barbara zu ihrem Tisch. »Das ist doch okay, Dad, oder? Sie muß unbedingt bei uns sitzen.«
Azhar sah Barbara mit seinen unergründlichen braunen Augen ruhig an. Einziges Zeichen einer inneren Reaktion war der Moment absichtlichen Zögerns, bevor er aufstand, um sie zu begrüßen.
»Wir würden uns freuen, Barbara«, sagte er förmlich.
Von wegen, dachte Barbara. Aber sie sagte: »Wenn Sie Platz haben ...?«
»Den Platz können wir schaffen«, versicherte Basil Treves. Und während er Besteck und Geschirr von ihrem Tisch zu Azhars trug, summte er mit der grimmigen Entschlossenheit eines Mannes, der sich bemüht, das Beste aus einer üblen Situation zu machen, vor sich hin.
»Ich freu' mich so, ich freu' mich so!« sang Hadiyyah. »Du bist auf Urlaub hier, stimmt's? Wir können an den Strand gehen. Wir können Muscheln suchen. Wir können angeln. Wir können auf den Pier gehen.« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und fischte nach ihrem Löffel, der wie ein silbernes Ausrufezeichen, das die Ereignisse kommentierte, mitten in den Cornflakes lag. Sie zog ihn heraus, ohne darauf zu achten, daß dabei Milch auf ihr gestreiftes T-Shirt tropfte. »Gestern, als Dad zu tun hatte, hat Mrs. Porter auf mich aufgepaßt«, berichtete sie Barbara. »Wir haben ein Buch über Fossilien im Garten gelesen. Ich meine«, erläuterte sie kichernd, »wir haben im Garten gelesen. Heute wollten wir oben auf der Cliff Parade einen Spaziergang machen, aber bis zum Pier ist es zu weit. Ich meine, für Mrs. Porter. Aber ich kann leicht so weit laufen. Und jetzt, wo du hier bist, läßt Dad mich bestimmt auf den Pier gehen. Nicht, Dad? Ich darf doch, wenn Barbara mitkommt?« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um, um Barbara anzusehen. »Wir können mit der Achterbahn fahren und mit dem Riesenrad, Barbara. Und wir können an der Schießbude schießen. Kannst du gut schießen? Dad kann es ganz toll. Er hat mir einmal einen Koalabären geschossen, und einmal hat er Mami einen rosa -«
»Hadiyyah!« Die Stimme ihres Vaters war streng und brachte sie wie immer sofort zum Schweigen.
Barbara vertiefte sich in das Studium der Karte. Dann gab sie bei Treves, der in der Nähe herumschwirrte, ihre Bestellung auf.
»Barbara ist hier, um sich zu erholen, Hadiyyah«, erklärte Azhar seiner Tochter, als Treves sich in Richtung zur Küche entfernte. »Du darfst dich in ihrem Urlaub nicht aufdrängen. Sie hat einen Unfall gehabt und fühlt sich sicher noch nicht wohl genug, um in der Stadt herumzurennen.«
Hadiyyah antwortete nicht, warf Barbara jedoch einen hoffnungsvollen Blick zu. Ihr aufgeregtes kleines Gesicht verriet, daß ihr nichts als Riesenrad, Achterbahn und Spielautomaten durch den Kopf spukten. Sie baumelte mit den Beinen und wippte auf ihrem Stuhl auf und nieder, und Barbara fragte sich, wie ihr Vater es fertigbrachte, ihr irgend etwas zu verwehren.
»Meine ächzenden alten Knochen werden vielleicht noch einen Marsch zum Pier schaffen«, sagte Barbara. »Aber wir müssen abwarten, wie die Dinge sich entwickeln.«
Dieses halbe Versprechen reichte dem kleinen Mädchen. Sie rief: »Hurra! Hurra!«, und bevor ihr Vater sie von neuem zurechtweisen konnte, machte sie sich über den Rest ihrer Cornflakes her.
»Lassen Sie sich bitte nicht stören.« Barbara wies mit einem Nicken auf den Teller mit Rührei, den Azhar vor sich stehen hatte. Wieder mimte er einen Augenblick des Zögerns, um seinem Widerstreben Ausdruck zu verleihen, doch was ihm widerstrebte, ob es sein Essen oder ihre Gesellschaft war, konnte sie nicht
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