09 - Denn sie betrügt man nicht
wirklich möglich, daß ein solcher Kampf nirgends Spuren hinterlassen hatte außer auf dem Körper des Opfers? Und konnte man, selbst wenn der Kampf unten am Strand stattgefunden hatte, mit gutem Grund annehmen, daß jeder Hinweis auf einen Überfall von der Flut weggespült worden war? Barbara dachte über diese Fragen nach, während sie die Fotos des Toten betrachtete. Die Tatsache, daß die Verletzungen des geschundenen Körpers von so unterschiedlicher Art waren, brachte sie auf eine andere Möglichkeit.
Sie suchte eine Vergrößerung von Querashis nacktem Bein heraus und dann die Vergrößerung eines Teilbereichs. Die Stelle, auf die der Pathologe die Polizei hinweisen wollte, war gekennzeichnet. Hier, am Schienbein, war ein haarfeiner Schnitt.
Im Vergleich mit den Quetschungen und Schrammen am Oberkörper des Toten schien ein fünf Zentimeter langer feiner Schnitt an seinem Bein eine Lappalie zu sein. Doch im Zusammenhang mit dem, was sie und Emily bereits über den Tatort wußten, war dieser Schnitt ein Detail, das neugierig machen mußte.
Emily warf den Bericht auf ihren Schreibtisch. »Nicht viel, was wir nicht schon wissen. Gestorben ist er an dem Genickbruch. Das Blut scheint sauber zu sein. Aber der Pathologe rät uns, die Kleider zu untersuchen, und empfiehlt im besonderen, die Hose genauer zu betrachten.«
Emily trat hinter ihren Schreibtisch und tippte auf ihrem Telefon eine Nummer. Während sie wartete, rubbelte sie sich den Nacken mit einem Waschlappen, den sie aus ihrer Tasche zog.
»Diese Hitze«, murmelte sie und sagte einen Moment später in die Sprechmuschel des Hörers: »Chief Inspector Barlow hier. Sind Sie das, Roger? - Hm. Ja. Zum Verrücktwerden. Aber Sie haben wenigstens eine Klimaanlage. Kommen Sie mal hierher, wenn Sie richtig leiden wollen.« Sie knüllte den Waschlappen zusammen und steckte ihn wieder ein. »Sagen Sie, haben Sie schon was für mich? ... Ich spreche von dem Mord auf dem Nez, Roger ... Erinnern Sie sich? ... Ich weiß, was Sie gesagt haben, aber der Pathologe vom Innenministerium hat uns empfohlen, seine Kleider zu untersuchen ... Was? Also, hören Sie, Rog. Suchen Sie's mir raus, okay? ... Ja, das versteh' ich, aber ich möchte nicht erst den getippten Bericht abwarten.« Sie verdrehte die Augen. »Roger ... Roger ... verdammt noch mal. Würden Sie mir jetzt endlich die Informationen durchgeben?« Sie legte ihre Hand auf die Sprechmuschel und sagte, zu Barbara gewandt: »Lauter Primadonnen, die Kerle da drüben.«
Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Telefongespräch, griff nach einem Block und begann sich Notizen zu machen. Zweimal unterbrach sie den Sprecher am anderen Ende der Leitung, einmal um zu fragen, wie lange; einmal um zu fragen, ob sich feststellen lasse, wie alt der Schaden sei. Dann legte sie mit einem brüsken »Danke, Rog« auf und sagte zu Barbara: »In einem der Hosenbeine war ein Riß.«
»Wo?«
»Genau zwölfeinhalb Zentimeter oberhalb vom Saum. Er sagte, der Riß sei offensichtlich frisch, denn die gerissenen Fäden waren nicht glattgerieben, wie sie das nach einer Wäsche gewesen wären.«
»Der Pathologe hat dir ein Foto seines Beins mitgeschickt«, sagte Barbara. »Am Schienbein ist ein Schnitt.«
»Paßt er zum Riß in der Hose?«
»Darauf wette ich.« Barbara reichte die Fotos weiter.
Die Aufnahmen, die am Samstag morgen auf dem Nez gemacht worden waren, lagen auf dem Schreibtisch. Während Emily sich über die Fotos der Leiche beugte, sah Barbara die Bilder von Querashi durch, wie er im Bunker gefunden worden war, und dann die vom Ort des Verbrechens. Sie sah, wo Querashi seinen Wagen gelassen hatte - oben auf dem Felsen, direkt vor einem der weißen Pfosten, die den Parkplatz begrenzten. Sie vermerkte die Entfernung vom Wagen zum Cafe und vom Wagen zum Rand des Felsens. Und da fiel ihr auf, was sie bei der ersten Durchsicht dieser Fotos am vergangenen Abend schon gesehen hatte, ohne es zu registrieren. Eigentlich hätte sie sich von ihrem lang vergangenen Ausflug zum Nez daran erinnern müssen: eine Betontreppe, die in einem diagonalen Einschnitt die Felswand hinunterführte.
Sie konnte erkennen, daß diese Treppe im Gegensatz zum Vergnügungspier nicht renoviert worden war. Das Geländer auf beiden Seiten war rostig und verbogen, und die Treppe selbst hatte unter dem ständigen Ansturm der Nordsee an den Felsen gelitten. Die Stufen hatten überall Sprünge, die ziemlich tief zu sein schienen. Sie hatten gefährliche Mulden.
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