09-Die Pfade des Schicksals
bewirkte, dass ihre Konzentration etwas nachließ. Die Flamme ihres Stabes wurde schwächer.
Sofort spürte sie erneutes Krabbeln in ihren Stiefeln, am Hosenbund ihrer Jeans, unter ihrer Bluse. Heißhungrige albtraumhafte Spinnen und Tausendfüßler nahmen ihr unterbrochenes Festmahl begierig wieder auf.
Sie hörte sich selbst wimmern: ein dünner schwacher Laut wie der Schrei eines sterbenden Kindes. Sie versuchte damit aufzuhören, ihre Kehle gegen heraufquellende Hysterie, die gallenbitter schmeckte, abzuschotten, und konnte es nicht. Sie glich einem bereits in Verwesung übergegangenen unbestatteten Leichnam, der jedem grausigen Hunger hilflos ausgeliefert war.
Plötzlich zerriss ein anderer Schrei die Luft: ein so extremes Heulen, dass es mit Blut aus der Kehle des Eifrigen zu kommen schien. Mit einer Demonstration von roher Kraft, die Linden erstaunte, rissen seine Bänder riesige Blöcke aus den Felswänden.
Nein, er tat mehr als nur das. Er riss nicht nur Felsblöcke heraus. Irgendwie gelang es ihm, die Wände zueinanderzuziehen, indem er an ihnen zerrte, bis sie einstürzten.
Sekundenschnell verschüttete eine Gesteinslawine die gesamte Öffnung des Felsspalts. Die bloße Masse des Bergsturzes erschütterte die noch stehenden Wände. Nasser Schutt und Geröll überspülten die Füße der Schwertmainnir, rissen sie mit. Der gewachsene Fels schien den Schrei des Eifrigen verstärkt zurückzuwerfen.
Hunderte von Tonnen Granit und Malachit, Schiefer und Travertin prasselten auf das Übel herab. Die Steinmassen begruben alle Fratzen unter sich.
In ihrer Panik vergaß Linden den Eifrigen und die Urbösen; vergaß das Übel und die quälenden Insektenbisse; vergaß sogar, dass sie ihrem Stab nur mehr wenig Erdkraft entlocken konnte. Übergangslos brach sie in eine flammende Eruption aus. Rutschte die Schräge zu weit ab, konnte das Gestein die Riesinnen unter sich begraben. Jedenfalls konnte ein Bergrutsch den Aufstieg unmöglich machen. Wenn sie ihn nicht mit Feuer und dem Gesetz aufhielt, ihn irgendwie zum Stehen brachte …
Das abrutschende Gestein hätte viel zu schwer für Linden sein müssen; aber sie ignorierte sein fatales Gewicht, seine gewaltige Bewegungsenergie. Fast ohne zu wissen, was sie tat, verankerte sie die Schräge, bis das durch den Bergsturz ausgelöste Beben verebbte.
Mahrtür versuchte Lindens Namen zu rufen, aber mit neuem Staub versetzte Luft nahm ihm den Atem. Spätgeborene rief keuchend nach oben: »Wir sind unverletzt! Die Urbösen auch!« Ein angestrengtes Luftholen. »Den Eifrigen kann ich nicht sehen!«
»Auch wir sind unverletzt!«, antwortete Steinmangold mit kräftigerer Stimme.
Sie, die nicht genannt werden darf, war jedoch nicht besiegt. Sie war keineswegs vernichtet oder auch nur verwundet. Sie war nur vorübergehend aufgehalten worden. Ihre Macht griff bereits durch den Bergsturz, zerrte heulend an Lindens wunden Nerven. In wenigen Augenblicken würde sie sich einen neuen Durchlass erzwingen.
Krabbelnde Insekten unter Lindens Kleidung brachten sie wieder zu sich selbst zurück. 0 Gott, sie waren überall! Sie existierten nicht. Trotzdem genossen sie ihr totes Fleisch, als wäre sie schon vor langem gestorben. Dutzende von einverleibten Fratzen - unzählige Frauen, die unvorstellbare Qualen litten - gierten danach, sie ihrerseits zu verschlingen.
Irgendwie hielt sie durch, bis das rutschende Geröll wieder stabilisiert war. Dann zog sie ihre Kraft wieder ab und rief mit schwacher Stimme den Eifrigen.
Ohne ihn konnte die Gesellschaft nicht aus diesen Tiefen entkommen. Die Urbösen und die Wegwahrer wussten offenbar, wohin sie sich wenden mussten. Aber die Verlorene Tiefe lag viel zu weit unter den tiefsten Schrathöhlen. Keiner von Lindens Gefährten konnte so hoch hinaufsteigen oder den Dämondim-Abkömmlingen auf ihren Pfaden folgen. Sie brauchten die Fähigkeit des Insequenten, sie an einen anderen Ort zu versetzen.
Aus der Ferne antwortete eine erschöpfte Stimme: »Ich habe mich verausgabt. Ich kann nicht mehr.«
»Kannst du dich bewegen?«, rief die Eisenhand. »Notfalls schaffen wir es, dich zu holen!«
»Nein.« In der Antwort des Eifrigen schwang ungeheure Erschöpfung mit. »Ihr braucht eure Kraft für die Flucht. Ich komme nach, so gut ich kann.«
»Wir lassen dich nicht zurück!«, widersprach Kaltgischt nachdrücklich.
»Ich wünsche auch nicht, zurückgelassen zu werden.« Er schien zu schwach zu sein, um weiterleben zu können. »Ihr müsst
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