09-Die Pfade des Schicksals
»Falls sie ihn braucht«, erklärte er den Umstehenden. Dann forderte er Stave und Pahni auf: »Los jetzt. Stärker werde ich nicht.«
Er würde eine gewisse Art Schwäche brauchen: die Art, die inspirierte Verzweiflung erzeugte.
Covenant wandte sich dem Bach zu und folgte ihm stromabwärts zu dem mit Felsblöcken übersäten Hang, der das nach Osten abfließende Wasser verdeckte.
Als Pahni und Stave ihm folgten, traten die Schwertmainnir zur Seite, um sie durchzulassen. Stave trug Linden mit gewohnter Leichtigkeit. Über Pahnis Gesicht zog irgendeine dunkle Gefühlsregung, aber sie ließ sich dadurch nicht in ihrer Wachsamkeit beirren.
Covenant hatte die erste Steigung fast erreicht, als er Aneles Stimme hörte. Er sah sich unwillkürlich um; sah den Alten in der Wanne aus Sturmvorbei Böen-Endes Brustpanzer sitzen. Mit einer Hand fuhr der alte Mann über die Innenfläche der steinernen Rüstung. Die Finger der anderen glitten durch den Sand und machten Zeichen wie Hieroglyphen.
Deutlicher als sonst sprechend sagte Anele: »Dieser Stein erinnert sich nicht an Linden Avery, Auserwählte Erdfreundin. Anele dagegen sehr wohl. Die Welt wird ihresgleichen nicht wiedersehen.«
Die Worte des Alten verfolgten Covenant wie eine Voraussage von Misserfolg, als er sich daran machte, die Steigung zu bewältigen … ihresgleichen nicht wiedersehen. Gelang es ihm nicht, Linden wiederzubeleben, würde er aus Anele einen Propheten machen.
Weil er abgelenkt war, stolperte er und wäre hingefallen, wenn Pahni ihn nicht am Arm festgehalten hätte. Nach einem Augenblick der Panik erinnerte er sich daran, wie wichtig es war, darauf zu achten, wo er war und was er tat, aufzupassen, wohin er die Füße setzte, und bereit zu sein, die Hände zu benutzen. Während er sich zwischen Felsblöcken hindurcharbeitete, beherzigte er wieder die vernachlässigte Disziplin, die sein Leiden von ihm forderte: die Vorsicht eines Leprakranken.
Seine Augen sagten ihm, dass manche Felsen von Wind und Wetter glatt geschliffen waren, während andere rau und zerklüftet, gefährlich waren. Seine Hände konnten solche Unterschiede nicht ertasten. Er konnte sich nicht auf sie verlassen, wenn er versuchte, sich auf Felsen oder auf Lindens Stab zu stützen. Zwischen manchen Felsblöcken lagen fast strohgelbe helle Flecken: abgerutschtes altes Schiefermaterial, das so alt war, dass es seine ursprünglichen Farben vergessen hatte. Seine Wahrnehmung verengte sich allmählich immer weiter darauf, geeignete Griffe und Tritte zu finden. Dass Stave etwas oberhalb von ihm Schritt hielt, Pahnis Wachsamkeit, die leichte Brise oder das murmelnde Rauschen des Bachs … alle diese Dinge registrierte er kaum noch.
Eine Zeit lang dachte er nicht einmal mehr an Linden oder an Angst.
Vor Anstrengung keuchend erreichte er den ersten Hügelkamm. Als er auf der anderen Seite hinunterstolperte, kam die restliche Gesellschaft außer Sicht. Der nächste Hügel schien etwas weniger steil zu sein. Covenant fühlte sich bereits schwach genug, um jede Menge Verzweiflung zu empfinden. Trotzdem war er noch nicht so weit.
Vielleicht würde er niemals so weit sein - nicht für dies hier. Jenseits des flacheren zweiten Hügels, jenseits der zweiten Biegung des Bachs fand er, was er suchte. Unter ihm schlängelte sich der Wasserlauf auf eine schmale Sandbank am Ausgang eines Trockentals zu und wieder von ihr weg. Gleich anschließend wurde der Bach zwischen Granitfelsen eingeengt, die er über Jahrtausende hinweg ausgewaschen hatte, bis ein Tümpel mit tieferem Wasser entstanden war.
Von seinem Standort über dem Bach ließ die Tiefe dieses Tümpels das Wasser dunkel, fast unergründlich tief erscheinen. Er hätte ein Brunnen sein können, der bis ins Herz des Unterlands hinabreichte.
Teufel, dachte Covenant. Verdammter Mist! Aber er blieb nicht stehen. Von Pahni und dem Stab des Gesetzes gestützt, begleitete er Stave zu der sandigen Stelle am Bachufer hinunter. Ein Goldjunge mit tönernen Füßen.
Weil er das Zögern satthatte, ließ er den Stab einfach fallen und begutachtete den nächsten Hügelkamm nördlich von ihnen. Dort ragte ein Felsblock von der Größe einer kleinen Hütte über der Horizontlinie auf.
»Siehst du den großen Felsen dort drüben?«, fragte er Pahni. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. »Von dort aus kannst du zusehen.« Ihretwillen fügte er hinzu: »Verlass dich auf deinen Instinkt. Glaubst du, dass wir Hilfe brauchen, rufst du Stave.«
Sie
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