09-Die Pfade des Schicksals
gehörte zu den Ramen; aber Stave war ein Haruchai. Er würde weit schneller reagieren.
Zweifel und Stetigkeit wechselten sich in rascher Folge im Blick der jungen Seilträgerin ab. »Ich werde tun, was du wünschst«, bestätigte sie, »wie mein Mähnenhüter mir befohlen hat.« Dann fügte sie nachdrücklich hinzu: »Und ich werde auf die Stimme meines Herzens hören.«
Pahni wandte sich sofort ab und begann den Hügel zu ersteigen. Trotz ihrer Müdigkeit schien sie geschmeidig und elegant zur Kammlinie hinaufzugleiten.
Jetzt, sagte Covenant sich. Jetzt oder nie. Tu es jetzt.
Wurde er noch schwächer, konnte er jeden Augenblick der Länge nach hinschlagen.
Er drehte sich nach Stave um und streckte die Arme aus. »Ich will, dass du außer Sicht bleibst«, sagte er energisch, als wäre er nicht kurz davor, zusammenzuklappen. »Meinetwegen hinter Pahnis Felsen. Mit deinen Sinnen weißt du vermutlich so rasch wie sie, was hier geschieht. Aber ich möchte, dass du wartest, bis sie dich warnt. Vertrau mir, so lange du irgend kannst. Oder vertraue ihr.
Du kannst Linden nicht mehr verehren als ich. Und du brauchst sie weniger dringend.« Stave betrachtete ihn. »Du glaubst, dass die Seilträgerin mich warnen wird. Du weißt schon jetzt, dass ich Gefahr spüren werde.«
Covenant erwiderte seinen Blick, streckte weiter schweigend die Arme aus.
Nach kurzem Zögern legte Stave Linden auf Covenants vor Schwäche zitternde Arme. Dann wandte der ehemalige Meister sich wortlos ab und folgte Pahni den Hügel hinauf. Wie sie bewegte er sich müheloser, als Covenant sich vorstellen konnte.
Offenbar traute Stave Covenant zumindest so weit. Wenigstens bis zu dem Felsen. Vielleicht würde er die typische Unnachgiebigkeit der Haruchai soweit vergessen können, dass er Covenants Erfolg oder Misserfolg abwartete.
Vor Anstrengung zitternd beobachtete Covenant, wie Pahni und Stave zu dem Hügelkamm hinaufstiegen. Er ignorierte seine Schwäche und blieb stehen, bis die Seilträgerin den von ihm bezeichneten Felsen erreicht hatte; bis Stave dahinter verschwunden war. Erst dann machte er sich mit unsicheren Trippelschritten auf den Weg ans Bachufer.
Seine gefühllosen Füße konnten sich den Weg nicht ertasten. Stattdessen nahm er einfach an, der angeschwemmte Sand falle zum Wasser hin gleichmäßig ab. Aufs Geratewohl oder die Vorsehung des Landes vertrauend torkelte er geradewegs in die Strömung.
Er ging sofort zu dem Tümpel mit tieferem Wasser weiter. Zu dem Brunnen …
Das Glück war ihm hold. Seine Stiefel stießen erst an unsichtbare Felsbrocken im Bachbett, als das Wasser bereits einen Teil von Lindens Gewicht trug. So konnte er das Gleichgewicht bewahren, auch als er mehrmals stolperte. ›
Er sah Linden nicht ins Gesicht. Hätte er sich gestattet, jetzt ihre Hilflosigkeit zu betrachten - die geliebten Linien von Mund und Nase, die sorgenvoll gerunzelte Stirn mit einer kleinen Falte zwischen den Augenbrauen -, wäre seine Entschlossenheit zerbröckelt, fürchtete er. Die hektischen Augenbewegungen hinter den Lidern würden ihm den Rest geben. Er würde mit steifen Knien aufhören, sich zu bewegen, keinen weiteren Schritt mehr machen, unter Tränen um Hilfe rufen.
Covenant biss die Zähne zusammen, bis sein Unterkiefer schmerzte, starrte angestrengt geradeaus und schlurfte in tieferes Wasser weiter.
Sobald der Wasserspiegel seine Oberarme erreichte, sodass er annehmen konnte, das Bachbett falle ab hier ab, ließ Covenant Lindens Beine ins Wasser gleiten. Bedeckte ihren Mund fest mit einer Hand. Hielt ihr mit seinen amputierten Fingern die Nase zu.
Dann holte er tief Luft und ließ sich mit Linden ins Dunkel sinken.
Als sie schließlich nach Luft zu ringen begann, ließ er sie nicht los.
2
Versuch eines Neubeginns
L inden Avery ertrank in Ihr, die nicht genannt werden darf. Diese Wahrheit war ihr bewusst, und ihr Entsetzen war grenzenlos. Sie hatte in den Tiefen des Donnerbergs eine Überflutung ausgelöst. Ihretwegen waren gelöste Giftstoffe und in Jahrtausenden angesammelte Wassermassen in die Höhle hinabgestürzt. Sie hatten ihre Gefährten aus der Existenz geschwemmt; Jeremiah und Covenant wie Treibgut mit in die Tiefe gerissen. Alle, die sie jemals geliebt hatte, waren nicht mehr.
Aber bloßes Wasser konnte ihr jetzt nicht mehr schaden. Sie war ihrem Sohn und ihrem einzigen Geliebten nicht in den Tod gefolgt. Stattdessen war sie von kreischender Gier verschlungen worden. Sie, die nicht genannt werden darf,
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