09-Die Pfade des Schicksals
Macht. Und die Kälte war inzwischen fast unerträglich.
Dass der Egger sich durch Eide verpflichtet hatte, war Linden nur ein schwacher Trost. Dort kann niemand hinein, wenn nicht erst das Portal geöffnet wird. Der Schock, sich in dieser abgeschlossenen Höhle wiederzufinden, in der sie kaum atmen konnte und die ihren Gesundheitssinn beeinträchtigte, war weniger groß als ihre Angst, der Egger werde es vielleicht nicht schaffen, das Portal zur Verlorenen Tiefe zu öffnen. Die Schlange des Weltendes kam ins Land. Hier wird sie ihre endgültige Nahrung entdecken … Das wahre Lebensblut aus dem Innersten des Herzens der Erde.
Linden konnte sich nicht vorstellen, wie jemand so viel Macht finden und gebrauchen sollte, dass er die Schlange des Weltendes stoppen konnte. Vielleicht wären Covenant und wilde Magie früher dazu imstande gewesen. Aber sein Verstand arbeitete unzuverlässig, und Linden hatte seinen Ring dem Egger überlassen. Allerdings glaubte sie nicht, dass es dem Egger gelingen würde, Covenants Ring zu behalten. Sie hielt es nicht einmal für wahrscheinlich, dass es ihm gelingen würde, ihren Stab zu behalten. Er verließ sich zu sehr darauf, dass Wesen wie Esmer und die Elohim nicht imstande waren, Jeremiah aufzuspüren. Und es gab weitere Feinde …
Zum Teil hatte sie dem Egger auch nachgegeben, weil sie vermutete, dass stärkere Kräfte als ihre menschliche Verzweiflung seine Absichten in Bezug auf ihren Sohn durchkreuzen würden.
Aber zuerst musste das Portal geöffnet werden. Durch einen Fehler, durch jeden Fehler, konnte der Egger den fragilen Brückenbogen zerstören und dadurch Jereamiahs Los besiegeln. Ihr Stab des Gesetzes und Covenants Ring würden auf ewig verloren sein.
Und: Dorf unten lauert eine schreckliche Macht - eine weitere Warnung, die Linden nicht ignorieren durfte.
Äußerlich wirkte Linden ganz ruhig. Ihre Hände zitterten nicht. Die eigene Atemwolke nahm ihr nicht die Sicht. Trotzdem erschauderte ihr Herz, als wäre ihr zu kalt, um sich bewegen zu können …
… so kalt, wie ihr in jenem vergangenen Winter im Land gewesen war, in dem Roger Covenant und der Croyel sie verraten hatten.
Schließlich ergriff Raureif Kaltgischt mit rauer Stimme das Wort. »Zweifellos haben wir wertvolle Einsichten gewonnen, und in diesem Punkt hat der Eifrige wahr gesprochen. Auf diese Weise haben wir von der gefährlichen Lage der Welt erfahren, was sonst nicht möglich gewesen wäre. Trotzdem hat das keinen Bezug zur Gegenwart. Es ist nur wichtig, wenn es uns gelingt, Linden Riesenfreundins Sohn zu befreien und den Gefahren dieser Unterwelt zu entgehen.«
Keinen Bezug zur Gegenwart. Ja. Die Stimme der Eisenhand schien alle ihre Riesinnen aus den Schatten zu holen, die Liands unstete Lichtquelle warf. Ihr Tonfall stellte ihre gewohnte Stabilität wieder her. Linden glaubte hören oder spüren zu können, wie die Echos der ausgestorbenen Gräuelinger zurückwichen.
… wenn wir nicht beides tun…
Vom Geschmack der abgestandenen Luft angewidert, holte sie widerstrebend tief Luft. Die Atmosphäre in der Höhle stagnierte zu sehr, als dass ein bloßer Orkrest viel hätte bewirken können. … wenn wir nicht beides tun … Kaltgischt hatte den Bann von Aneles Äußerungen gebrochen. Nun war Linden an der Reihe.
Aber sie wollte zu viel gleichzeitig. Wollte dem Egger helfen oder ihn zumindest warnen, Anele verstehen und Covenant auffangen, den sie innerlich zusammenbrechen fühlte. Glaubte, ihr genüge es, Jeremiah zu finden, ihn ein letztes Mal in die Arme zu schließen - oder versuchte zumindest, es zu glauben. Aber es war nicht die ganze Wahrheit. Sie musste dafür sorgen, dass er von dem Croyel befreit wurde. Und sie würde niemals ohne Covenant leben können.
Um ihrer selbst willen sollte Covenant wieder ganz werden. Dann würde sie sich seine Wiedererweckung vielleicht verzeihen können. Aber er war auch aus weniger selbstsüchtigen Motiven wichtig. Wenn sie in diesem Dunst aus Stagnation und eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit schon nicht klar denken konnte, konnte sie sich zumindest bewegen. Auf die Beine kommen. Etwas unternehmen. Vom Herzen ausgehend durchlief ein Zittern ihren Körper. Es nutzte nichts, sie war zu schwach. Schon die kleine Anstrengung, den Kopf zu heben, war zu viel für sie.
Nach kurzer Pause fragte Mähnenhüter Mahrtür zögernd: »Ist es denkbar, dass auch der Egger wahr gesprochen hat?« Das klang zaghaft, als wäre er sich seiner selbst nicht sicher.
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